zieds1mazs2.gif (177 bytes) ROOTS=SAKNES zieds1mazs2.gif (177 bytes) Ethnicities zieds1mazs2.gif (177 bytes) Germans zieds1mazs2.gif (177 bytes) Help

 

 

 

 

zieds1mazs.gif (257 bytes) Familienforschung und Siedlungsgeschichte.

Eine Anregung von Wolfgang Wachtsmuth.

(Rigascher Kalender. 1929)

 

Die Genealogie ist lange zeit (und noch bis vor kurzem!) in argem Mißkredit gewesen. Und nicht mit Unrecht. War sie doch oft ein Tummelplatz von Eitelkeiten und Unbildung. Bürgerliche Geschlechter waren bestrebt, sich an gleichnamige adlige anzuranken, briefadlige an uradlige, uradlige dienstmännischen Ursprungs an gleichnamige dynastische; und fürstliche Familien des 17. und 18. Jahrhunderts ließen ihren Stamm (unter Benutzung des äneas-Motivs) durch dienstbeflissene Hofgenealogen nur allzugern auf die trojanischen Könige zurückführen. Eitelkeiten hier wie da, und Unbildung desgleichen. Noch vor 20 Jahren fand ich in einer ernst sein wollenden deutschen genealogischen Fachzeitschrift eine Anfrage, in der ein deutscher "gebildeter" Herr nach Auskünften über einen russischen Zweig seiner familie suchte, dessen Ahn "zur Zeit der Kreuzzüge als Apotheker nach Moskau gezogen war".

Da ist kein Wunder, wenn die ernste Wissenschaft sich den genealogischen Bestrebungen fernhielt und genealogischen Forschungsergebnissen mit Mißtrauen begegnete. Dieses Sichfernhalten. wissenschaftlich gebilderte Kreise hat, rückwirkend, den Tiefstand der Genealogie noch verschlimmert, - bis vor wenigen Jahrzehnten Männer wie die Professoren Schulte-Bonn, v. Dungern-Graz, Heck-Tübingen und einige andere durch ihre Forschungen der Genealogie ihren "Platz an der Sonne" unter den Wissenschaften neu zu erkämpfen wußten, indem sie neben die bisher allein üblichen "philologischen" Forschungsmethoden auch "genealogische" setzten und so zu ganz neuen, grundlegenden Erkentnissen auf dem Gebiete der mittelalterlichen deutschen Ständegeschichte kamen. Welch grundlegende Bedeutung genealogische Forschungen auch für die Geschichte unserer Heimat haben können, beweist schlagend die geistvolle und tiefgründige Studie von Dr. Astaf von Transehe-Roseneck: "Die ritterlichen Livlandfahrer in Heinrichs Chronicon Livoniae. [In "Mitteilungen aus der livländischen Geschichte", herausgegeben von der "Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde zu Riga", 4. Heft des XXI. Bandes, 1928.]. Was Transehe in der Einleitung zu dieser Studie über Wesen und Wert der Genealogie sagt, kann nicht genug beherzigt werden. - Nach dem Kriege haben die genealogischen Forschungen dann einen solchen Umfang angenommen, daß Graf Hermann Keyserling nicht mit Unrecht sagen kann ["Das Spectrum Europas", Niels Kampmann Verlag, Heidelberg, 1928, Kapitel "Ungarn", S. 247], daß "der eugenische Gedanke in der ganzen Welt erwacht ist" und "bald jeder seinen Stammbaum kennen wird".

Auch bei uns sind ähnliche Bestrebungen im Gange, und da wollen diese Zeilen nun dazu anregen, daß die Ergebnisse dieser genealogischen Einzelforschung in den Dienst einer größeren historischen Aufgabe gestellt werden, - nämlich in den Dienst einer baltischen Siedlungsgeschichte. Dieses ist um so nötiger, als wir jetzt wissen, daß nur verschwindend wenige baltische Familien (auch unter dem Adel) auf eine 700-jährige "baltische" Geschichte zurückblicken können. Die überwiegende Mehrzahl (und wohl das gesamte heutige Bürgertum) ist erst später, ist erst im Laufe der 700 Jahre eingewandert, und wir können fast von einer "bürgerlichen" Neubesiedlung des Baltikums nach der Pest von 1710 sprechen.

In seiner Schrift "Niederdeutsche Elemente in der Umgangssprache der baltischen Deutschen" [Zweiter Band Nr.4 der "Abhandlungen des Herder-Instituts zu Riga", Verlag G.Löffler, Riga 1926] stellt Dr. Oskar Masing die Frage (S. 6): "Woher (im räumlichen, zeitlichen und kausalen Sinn) stammen die niederdeutschen Elemente unserer Sprache?" und beatwortet sie dahin, daß man sich wird "mit Auskünften begnügen müssen, die mit "vielleicht"'bestenfalls mit "wahrscheinlich" beginnen, wenn sie nicht gar das Geständnis enthalten: "Non liquet". "Haben wir es"- fragt Masing weiter - "im heutigen baltischen Deutsch mit (niederdeutschen) Reliktformen aus der vorhochdeutschen Zeit Altlivlands zu tun oder mit Spracherscheinungen, die später zu uns gelangt sind? Solange wir keine Siedlungsgeschichte unserer Heimat besitzen, kann eine Auskunft nur in wenigen Einzelfällen gegeben werden."

Hier sehen wir, welche Bedeutung z. B. in sprachwissenschaflicher Hinsicht genealogische Forschungen haben können, wenn sie in den Dienst der Siedlungsgeschichte gestellt werden.

Nur ein einziges genealogisches Quellenwerk stand Masing zur Verfügung: die von W.Räder und O. Stavenhagen bearbeitete und herausgegebene "Bürgerliste und Ratslinie der Stadt Goldingen bis zum Jahre 1889" [Jahrbuch für Genealogie, Heraldik und Sphragistik, 1909/10, Mitau 1913. S. 158-245.]. Daraus errechnet er, "daß von den Zuwanderern aus den außerbaltischen deutschen Sprachgebieten, die im Laufe des XVII. Jahrhunderts das Bürgerrecht in Goldingen erwarben, etwa 77% aus Norddeutschland stammen; im XVIII. Jahrhundert sind es ca. 68%, im XIX. (bis 1889) ca. 71%", und "daß während des XVII. Jahrhunderts von den in Goldingen heimisch gewordenen niederdeutschen Siedlern ca. 23%, im XVIII. ca. 48%, im XIX. (bis 1889) ca. 66% aus Preußen stammen".

Dieses Anwachsen des nordostdeutschen, d. h. preußischen Einschlages ist außerordentlich charakterisch. Je näher zur neuesten Zeit, desto mehr wird der Landweg (zumal nach Kurland) bei der Einwanderung benutzt, während in früheren Jahrhunderten die deutschen Hafenstädte, und unter ihnen nicht zuletzt Lübeck, die Ausfallstore waren. Das wird durch neuere Forschungen von Andre Favre ["Zur Herkunft der Balten" in "Revaler Bote" 1928 den 7., 8., 10. Dezember (Nr. 282, 283, 284)] aufs beste bestätigt. Er hat seinen sehr interessanten siedlungsgeschichtlichen Untersuchungen die "Erbebücher der Stadt Riga" aus den Jahren 1384-1597, das "Pernausche Bürgerbuch" von 1618-1889 und das "Felliner Bürgerbuch" von 1728-1889 zugrunde gelegt. Er kommt zu Ergebnis, daß sich während der Ordenszeit die altlivländischen Kolonisatoren zu 3/4 aus Westelbien (Sachsen und Franken) und nur zu 1/4 aus Ostelbien rekrutieren. Aber etwa ab 1600 kehrt sich das Verhältnis der westelbischen Sachsen zu den Ostelbiern (die Franken scheiden ganz aus) ins Gegenteil: die Westelbien gehen progressiv zurück und steuern nur noch 1/4, schließlich nur noch 1/10 bei, während die Ostelbier auf über 3/4 anschwellen. Dabei stellt Favre die Hypothese auf, daß der baltische Adel (als der Teil der Bevölkerung, der am frühesten, vielfach noch während der westelbischen Periode, eingewandert ist) vorwiegend westfälischen [Vgl. hierzu v. Transehe a. a. O. S. 307]. Ursprungs ist, der Literatenstand vorwiegend aus den sächsisch-thüringischen (Wettiner) Landen stammt, wo die Hochburgen der Reformation und des akademischen Lebens standen, der Kaufmanns- und Handwerkerstand aber von der "plattdeutschern Wasserkante" herkommt, wo die Brennpunkte des oftwärts gerichteten Handels und Verkehrs lagen. Favre sagt selbst, daß es "Stichproben" waren, die ihn zu diesen Ergebnissen führten. Wie vieles ließe sich da noch erforschen, wenn weitere Quellen erschlossen werden würden!

So harrt der siedlungsgeschichtlichen Auswertung noch die Georg Adelheim bearbeitete und herausgegebene "Genealogie der alten Familien Revals" [1925, Verlag F.Wassermann, Reval.], deren Fortsetzung als "Der Revaler Ahnentafeln zweite Folge" soeben in Druck gegangen ist. Eine flüchtige Durchsicht der 55 Ahnentafeln des ersten Teiles ergibt folgende Daten: von den 33 Familien, deren Ursprungsort, resp. Land bekannt ist und die (bis auf aine) alle spätestens im 17. Jahrhundert eingewandert sind, stammen 27 aus Norddeutschland, aus niederdeutschen Sprachgebiet; von diesen 27 kommen 21 aus dem Nordwesten und nur 6 aus Nordosten (3 aus der Stettiner Gegend, 2 aus Stralsund, 1 aus Wismar). Es handelt sich hier, wohlgemerkt, ausdrücklich um "alte", früh eingewanderte Familien Revals, so daß dieses Ergebnis den Favre'schen nahekommt. Eine systematische Durcharbeitung der Adelheimschen Ahnentafel würde sicher höchst interessantes und wertvolles Material zur baltischen Siedlungsgeschichte geben.

Dasselbe gilt vom großen Stammtafelwerk von Erich Seuberlich ["Stammtafeln deutsch-baltischer Geschlechter", 1927, Verlag der Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte, Leipzig]. Es umfaßt (weitere Lieferungen sind in Vorbereitung) die Stammtafeln von 39 baltischen bürgerlichen Familien; da aber auch die mit diesen versippten und verschwägerten Geschlechter vielfach berücksichtigt werden (das Register enthält nicht weniger als ca. 3500 verschiedene Familiennamen!), so haben wir es hier mit einer Fundgrube allerersten Ranges und einem wichtigen historischen Quellenwerk zu tun. Es muss sich nur jemand finden, der die Schätze hebt, die in den Werken von Adelheim und Seuberlich ruhen.

Beide Herren haben selbst auch siedlungsgeschichtliche Forschungen angestellt, doch sind deren Ergebnisse leider noch nicht der æffentlichkeit übergeben worden. Dank ihrer gültigen Erlaubnis bin ich aber in der Lage, Folgendes mitzuteilen.

Georg Adelheim hat das Bürgerbuch von Dorpat für die Jahre 1719-1796 bearbeitet und gibt mir in einem Briefe vom 22. Dezember 1928 folgende Auskünfte über die geographische Lage der deutschen Ortschaften, die im 18. Jahrhundert Dorpat mit Bürgern versorgt haben: "Es zieht sich ein feiner Streifen von Straßburg im Südwesten nach Dorpat zu im Nordosten. Etwa in Thüringen spaltet er sich. Ein Zweig führt hart nach Norden, verdickt sich in Brandenburg und geht als feiner Streifen weiter nach Norden, um an der "Wasserkante" am dunkelsten zu erscheinen. - Ein zweiter Zweig geht von Thüringen aus nach Sachsen und wendet sich von dort durch Schlesien nach Ostpreußen. - Auffallend ist die völlige Ausschaltung von Westfalen, Westpreußen (außer Danzig) und Hinterpommern. Für Reval ist das Bild, glaube ich, nicht viel anders, nur daß die Wasserkante noch stärker betont erscheint. - Aber wohl gemerkt: dieses Bild geben die Bürgerbücher; es gilt also nur für den Kaufmanns- und den Handwerkerstand! Unsere Literatenstand hat auch Glieder von der Wasserkante her bezogen, aber nur in geringem Maße. Die Heimat unseres Standes haben wir in Thüringen (Jena, Göttingen etc.) zu suchen." - Also wiederum dieselbe Erscheinung, daß Westfalen als Stammesheimat der in neuerer Zeit eingewanderten Balten kaum noch in Frage kommt.

Einen äußerst wertvollen Kommentar zur baltischen Siedlungsgeschichte und Rassenkunde werden einmal die von Georg Adelheim teils in Angriff genommen, teils schon abgeschlossenen Porträtsammlungen abgeben: 1) "Die Alterleute der Großen Gilde zu Reval 1805-1928"; 2) "Die ärzte Estlands in Bildnissen 1805-1905" (300 Porträts); 3) "Der Revaler Rat im 19. Jahrhundert"; 4) "Das estländische Landratskollegium; 5) Die Lehrer der estländischen Ritter- und Domschule"; 6) "Die Lehrer des Revaler Gouvernementsgymnasiums".

Auch Erich Seuberlich hat siedlungsgeschichtliche Forschungen betrieben und z. B. das Revaler Bürgerbuch 1624 bis 1690, die Lehrlingsbücher des Rigaer Wettgerichts 1655-1675 und das Rigaer Bürgerbuchs 1722-1759 daraufhin durchgearbeitet, aus welchen Gegenden die neu Hinzugezogenen stammen. Hierbei hat sich unter anderem die interessante Tatsache ergeben, daß einzelne baltische familien systematisch kolonisatorisch gewirkt haben. So hat z. B. das Handelshaus Hollander in Riga in den Jahren 1728-1758 nicht weniger als 7 Lehrlinge und Carl Thomas Berens (bis 1671) 8 "vater- und mutterlose Waisen" als Lerhlinge allein aus Rostock (woher beide obengenannten Familien stammen) ins Land gezogen; wie überhaupt von Rostock aus ein starker Zuzug nach Riga und auch Bauske (dieses gleichfalls durch die Berens) erfolgt ist. Die große wirtschaftliche Bedeutung Bauskes in jener Zeit ist recht eigentlich erst dank genealogischen Studien neuerdings erkannt worden.

Zur Nachahmung empfohlen sei auch das Beispiel eines jungen baltischen Historikers, der in Deutschland promovieren will und sich für seine Dissertation ein baltisches siedlungs- und ständegeschichtliches Thema gewählt hat: "Stammesheimat und Standesverhältnisse der kurländischen Geistlichkeit siet den Zeiten Herzog Gotthards".

Aber, - es gibt nicht nur eine "Siedlungsgeschichte", die da lehrt, aus welchen Gegenden des Mutterlandes die deutschen Einwanderer des Baltikums stammen - aus welchen deutschen Rassen mithin sich das heutige Baltentum aufbaut. Es gibt auch eine Geschichte der inneren Kolonisation des Baltikums, die von der Gruppierung, den Umschichtungen und Verschiebungen zu berichten hat, die sowohl innerhalb das Deutsch-Baltentums hier im Lande, als auch, darüber hinaus, innerhalb der baltischen Gesamtbevölkerung vor sich gegangen sind. Daß die Lehre von der gegenseitigen Abgeschlossenheit der deutschen Bewohner der ehemaligen 3 Ostseeprovinzen eine Irrlehre war, haben schon die oben erwähnten Seuberlichschen Stammtafeln gelehrt: unzählige verwandtschaftliche Fäden führen von Kurland nach Estland, von Estland nach Riga usw., so daß tatsächlich auch von einer "Blutsgemeinschaft" des deutsch-baltischen Bürgertums gesprochen werden darf. Aber noch mehr: diese Blutsgemeinschaft greift über die deutschen Bewohner des Baltikums hinaus und erstreckt sich zweifellos in garnicht geringem Umfange auch auf die Letten un Esten. In seinem "Spektrum Europas" (S. 386) äußert sich Hermann Keyserling im kapitel "Das Baltikum" wie folgt zu diesem Thema:

"Und besteht (zwischen den Deutsch-Balten, Letten und Esten) kein historisches Gemeinschaftsbewußtseins, so besteht andererseits in weit höherem Grade Blutsgemeinschaft, als die früheren Ober- und die früheren Unterschichten wahrhaben wollen. Alle Eroberer der Erde ohne Ausnahme zeugten von jeher Kinder mit den Töchtern des Landes. Insofern in früheren Zeiten, im Gegensatz zur heutigen, mehr Nachkommen der Ober- als der Unterschichten am Leben blieben, waren sie buchstäblich die eigentlichen Landesväter; im Anfange der Geschichte stammen ja oft ganze Stämme von ihren Königen ab. So erklärt sich der durchgehend fränkische Typus der meisten Franzosen bis auf die des Südens und Westens - der eingewanderten Franken waren niemals viele. Gleiches hat sich natürlich in sehr hohem Maße im Baltikum ereignet. Zumal die Esten führen sicher kaum weniger germanisches - schwedisches und deutsches - Blut in ihrem Adern wie finnisch-ugrisches: überdies besteht wohl noch eine gotische Ur-Unterlage."

Aber, - auch wenn wir von dieser Blutsgemeinschaft absehen, die meist zu weit zurückliegt, um urkundlich bewiesen werden zu können, gibt es doch auch noch genug genealogisch gesicherte Blutmischungen. Kirchenbuchforschungen, die nicht einmal über das 18. Jahrhundert zurückzureichen brauchen, würden schon zu ganz verblüffenden Ergebnissen führen. Sie würden zeigen, wieviel deutsches Blut in den heutigen Letten und Esten, und wieviel lettisch-estnisches Blut in so manchem Deutsch-Balten kreist; sei es, daß es sich um einen lettischen Bluteinschlag durch frühere Versippung mit aufstrebenden lettischen Familien, sei es, daß es sich um Geschlechter handelt, die sich heute zu den Deutschen zählen und bedingungslos als solche gelten und gelten dürfen, die aber, ohne daß jemand es weiß, ursprünglich nichtdeutschen Ursprunges sind. Dabei hat (das ist an anderer Stelle von mir schon näher ausgeführt worden) diese Entnationalisierung auf dem Lande und in der Stadt eine ganz entgegengesetzte Richtung genommen: auf dem Lande wurden die Deutschen von den Letten assimiliert; in der Stadt die Letten und Esten von den Deutschen. Die außerordentlich vielen deutschen Handwerker, die sich seit dem 18. Jahrhundert in Kurland (als sogenannte "Einlieger") auf fast jedem größeren lettischen Gesinde [Bauernhof] nachweisen lassen, sind, des Rückhaltes an die Zunft beraubt, durch Mischehen zu einem sehr großen Teil im Lettentum aufgegangen. Da würden lettische Stammtafelforschungen sehr wertvolle Aufschlüsse für die Rassenkunde geben. Umgekehrt ist durch alle Jahrhunderte ein ununterbrochener Zuzug aus der nichtdeutschen Landbevölkerung in die noch vor 100 Jahren völlig deutschen baltischen Städte erfolgt, und hier in den Städten wurden die Zugezogenen durch allmählichen sozialen Aufstieg auf dem Wege über Mischehen ("Halbdeutsche" hießen sie in der ýbergangsgenerationen) langsam zu Deutschen - ein Prozeß, den wir bis zum Weltkriege ja mit eigenen Augen haben beobachten können. Die fast völlige Entdeutschung so vieler baltischer Städte, die mit verblüffender Schnelle sich in den letzten 75 Jahre trotz der assimilierenden Kraft der deutchen Stadtbevölkerung vollzogen hat, ist nicht auf Entnationalisierung deutscher Bürgerfamilien, sondern auf deren Abwanderung nach Rußland (wo ihnen bessere Zukunftsmöglichkeiten winkten) zurückzuführen. Die Söhne des deutsch-baltischen Handwerksmeisters zogen - altem Wandetrieb gehorchend - in die Ferne, und lettische Gesellen rückten an ihre Stelle und wurden zu Meistern. Es ist kein Zufall, daß die an der Heerstraße nach Peterburg gelegenen livländische Städte Wenden, Wolmar und Walk fast völlig entdeutscht sind, während die abgelegenen kleinen kurländische Städte noch heute eine verhältnismäßig zahlreiche deutsche Bevölkerung aufweisen. Das ist auch ein Kapitel "Siedlungsgeschichte", das noch der Bearbeitung durch den Genealogen harrt. Es läßt sich bei vielen deutschen Handwerkerfamilien an der Hand der Kirchenbücher ihre Wanderung durch die Städte des Baltikums und ihre schließliche Abwanderung nach Rußland (die Petersburger Kirchenbücher sind eine Fundgrube hierfür) auf eindeutigste nachweisen. Es ist das der alte Prozeß der Kolonisation des Ostens durch den deutschen Auswanderer; ein Prozeß, der durch alle Jahrhunderte fortgedauert und das Baltikum zu einer Etappe auf diesem Wege von West nach Ost gemacht hat. Einen sehr guten Beleg für diese Zu- und abwanderung gibt ein Aufsatz von C. Wilde von Wildemann, beteilt "Schloß Amboten in Kurland, ein deutsches Einwanderernest" (Familiengeschichtliche Blätter" Jahrg. 1929, Heft 2, Leipzig). Wilde v. Wildemann weist aus dem Kirchenbuche von Amboten von 1799-1832 nach, daß in dieser kurländischen Landgemeinde im Verlaufe obengenannter 33 Jahre die verblüffend hohe Zahl von über 500 deutschen Handwerkern ansässig war! Wohlgemerkt: "ansässig", nicht "seßhaft". Die Eintragungen über "Getaufte" umfassen nämlich 59 Folioseiten, die über "Gestorbene" nur 4 Folioseiten! Etappe auf ihrer Wanderschaft war diesen handwerkern Amboten geworden, nicht aber bleibender Wohnsitz.

Eine baltische Siedlungsgeschichte fehlt uns. Eine Siedlungsgeschichte, die uns die Quellen aufweist, aus denen die Kolonie vom Mutterlande her gespeist wurde, aber auch eine Geschichte der inneren Kolonisation des Baltikums, die da zeigt, wie die Einwanderer sich hier auf kolonialem Boden verteilten, fremde Volkskreise assimilierten oder sich von ihnen assimilieren ließen, bodenständig wurden oder hier auf ihrer Wanderung nach Osten nur eine kurze Rast machten.

Eine kleine Anregung, diesen Problemen nachzugehen, wollen obige Ausführungen sein. Genealogische Forschungen stehen gerade auch bei bürgerlichen Familien hier im Lande eben in voller Blüte. Wollte jeder Familienforscher hierbei nicht nur an seine Sonderzwecke denken, sondern seine Sammelarbeit von den oben skizzierten allgemeineren Gesichtspunkten leiten lassen, - er verhülfe der Genealogie zu weiterem Ansehen und leistete unserer Heimatgeschichte einen wertvollen Dienst.