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zieds1mazs.gif (257 bytes)  K. von Manteuffel. Meine Siedlungsarbeit in Kurland. Part 2

 

28 Names in both parts: Althausen, Baber, Barth, Bernewitz, Blueschke, Boettcher, Brödrich, Fölkersahm, Hahn, Kalpokas, Keyserling, Knjasew (Kòazevs), Lackschewitz, Lieven, Manteuffel, Medem, Purvit (Purvîtis), Recke, Reynier, Schroeder, Schulz, Schultze, Simolin, Sivers, Stackelberg, Villon, Walujew, Wolter.

This is the second part of the book of Karl Freiherr von Manteuffel gen. Zoege-Katzdangen Dr. Dr. H.C. Kreismarschall A.D. Meine Siedlungsarbeit in Kurland (My work on the settling in Kurland).

Connect to the part 1 for more information about the book and for the first chapters.

 


Now the text of the book in German:

The first part

Vorwort
Meine Siedlungsarbeit in Kurland
In Katzdangen
Im Fernen Osten
Der lettische Aufruhr
Erwachen des deutschen Gedankens
Der Verein der Deutschen
Die höheren deutschen Schulen
Anstoß zur Siedlung
Die Kolonisten
Reise nach Wolhynien
Vorbereitungen

The second part (this file):

Die ersten Siedler
Anfängliche Schwierigkeiten

Fortschritte
Erweiterung
Landknechte
Seelische Opfer
Landbeschaffung
Landhunger
Die ersten Bauernhöfe
Aufteilung von Gütern

Freie Siedlung
Persönlicher Einsatz
Pächter
Vielseitigkeit
Grundsätzliches
Widerstände
Erfolge
Geburtenzuwachs
Gesundheitsfürsorge

Wesensart der Siedler
Gottesdienst
 
Unterhaltungsspiele
Besucher
Schulen
Gesamtsiedlung
Andere Siedlungsführer
Ausblick

 

Die ersten Siedler

Am 23. April 1906 kamen sie, vierzig Familien mit ihrem geringen Hausrat, vor allem mit großen Federbetten, kraftlos aussehende, bleiche Männer, kränklich erscheinende Frauen und unglaublich viele Kinder, alle sehr ärmlich gekleidet. Die Letten lachten: "Diese Schwächlinge sollen uns ersetzen!" Und in der Tat war der unterschied zwischen den starken, wohlgenährten und gutgekleideten Letten und den Ankömmlingen gewaltig. Diese waren auch selber in trüber Stimmung, vor allem hatte es sie beeindruckt, auf dem ganzen, sechs Meilen langen Wege vom Bahnhofe bis zu mir keine Kühe gesehen zu haben. Sie meinten, es sei doch schrecklich, in ein Land zu kommen, wo es kein Vieh gebe. Die Küsterlehrer hatten sie beruhigt, es sei ja gerade das Zeichen eines reichen Landes, wenn man so viel Futtermittel übrig habe, daß man das Vieh nicht so früh auf die Weide zu treiben brauche. Ich selber empfing sie in Katzdangen und bereitete ihnen, um ihre Stimmung etwas aufzurichten, die Überraschung, daß ich ihnen das Reisegeld, das zu zahlen ich nicht versprochen hatte, dennoch gleich ersetzte. Jede Familie erhielt fünfundzwanzig Rubel (54 Mark). Dieser erste Eindruck wurde ausschlaggebend; sie sahen, daß man ihnen mit Wohlwollen und ohne Berechnung entgegentrat. Dann wurden sie in die verschiedenen Knechtswohnungen auf den beiden dazu bestimmten Gütern verteilt. Ich bin damals jeden Tag zu ihnen gefahren, wiewohl das eine Gut fast 2 Meilen von Katzdangen entfernt lag, um ihnen Mut zuzusprechen und ihren verschiedenen Nöten abzuhelfen.

Anfängliche Schwierigkeiten

Diese ersten Wochen waren in der Tat schwer. Die lettischen Aufseher, denen die Ankömmlinge zunächst unterstellt werden mußten, waren ränkesüchtig und ihnen gewiß nicht wohlgesinnt. Andererseits ließ sich auch kaum bestreiten, daß die Kolonisten den Anforderungen an einen durchschnittlichen Arbeiter zunächst nicht im geringsten entsprachen. Man muß bedenken, daß die Letten tüchtige und bequeme Knechte waren, daß also die Beamten im Vergleich zu ihnen mit Recht über die Ankömmlinge klagen konnten, denn diese waren den Anstrengungen unserer Landwirtschaft noch gar nicht gewachsen, mit der kurländischen Arbeitsweise nicht vertraut und in vielem auch durch das südlichere wolhynische Klima verwöhnt. So weigerten sie sich zuerst, bei Regen im Freien zu arbeiten, was in Kurland, wo es oft regnet, undurchführbar war. Es blieb bei den täglichen Reibereien schwer zu entscheiden, wer Recht hatte, ob es sich um Verleumdungen der lettischen Aufseher oder um ein tatsächliches Versagen der Kolonisten handelte. Oft schien es aussichtslos, sie jemals zu ordentlichen Knechten zu erziehen. Selbst meine höheren, deutschen Beamten flehten mich an, den vergeblichen Versuch aufzugeben. So mußte ich fortwährend schlichten, die Aufseher beruhigen, den Kolonisten zureden, mußte ermahnen, bitten und schelten. Es war eine mühselige Zeit.

Dazu kamen die lettischen Drohungen. Das eine Wohnhaus der Kolonistenknechte lag hart an der Landstraße, und die armen Frauen der Ankömmlinge mußten fortwährend sehen, wie vorbeifahrende Letten ihnen das Zeichen des Halsabschneidens machten. Es fanden sich an ihren Türen Totenköpfe und Kreuze, in Kohle und Kreide mehr oder weniger künstlerisch gemalt, und dergleichen geistreiche lettische Scherze mehr. Glücklicherweise wohnten sie zu mehreren Familien zusammen, so daß sie vor lettischen Angriffen gesicherter waren. Als sie zum erstenmal zur Kirche kamen, nahmen die aus dem vorhergehenden lettischen Gottesdienste herausströmenden Letten eine so drohende Haltung ein, daß ich gezwungen war, mich unter die Kolonisten zu stellen, um sie durch mein Ansehen zu schützen. Es war ein Glück, daß es damals zu keiner lettischen Gewalttat kam. Wäre einer der Neukömmlinge ermordet worden, so wäre es kaum möglich gewesen, die anderen im Lande zurückzuhalten. Aber glücklicherweise haben die Letten den Zeitpunkt, da ein Schreckschuß noch hätte wirken können, ungenützt vorübergehen lassen.

Unterdessen suchte ich für die von der fremden Umgebung noch bedrückten Neukömmlinge nicht nur allseitig zu sorgen, sondern ihnen auch menschlich näher zu kommen. Jeden Sommer kam eine ältere Freundin meines Hauses, die Baronin Marie Medem, nach Katzdangen, um für einige Monate zuerst im Schlosse, dann, als es abgebrannt war, in dem nun seine Stelle vertretenden Kavalierhause alle Pflichten der Gutsherrin zu übernehmen. Ein wunderbar lebensvoller Mensch, klug und tatkräftig, mit einem großen, sonnigen Herzen. Sie hatte sich mit viel Liebe und Verständnis um die Letten gemüht und nahm sich nun mit noch mehr Liebe der Kolonisten an, die als Deutsche uns so viel verständlicher waren. Es gab anfangs viel Krankheit unter ihnen. Marie Medem brachte ihnen Arzneien, beriet die Mütter, pflegte die Kinder, sie gründete später einen Jungfrauenverein und kannte und liebte sie alle. Solche Arbeit ist nur möglich, wenn man mit dem Herzen dabei ist. Wer nicht sein ganzes Ich einsetzen will, sollte sich an ein solches Werk nicht wagen. Schon darum wird die Siedlungsarbeit eines Einzelnen, wenn sie aus Liebe zum Volkstum geschieht, in der Regel der beamtlichen überlegen sein; und ist das Herz dabei, so muß sie gelingen. Mit jeder Erfahrung, die ich machte, wuchs auch mein Glaube an die in all diesen Bauern schlummernde, an die dem Deutschtum innewohnende Kraft.

Fortschritte

Und schließlich ging es vorwärts. Einer nach dem anderen wurde gewonnen, täglich fanden sie sich mehr in die neuen Verhältnisse, ihre Mienen wurden heiterer, ihre eigenen Klagen und die der Aufseher über sie verstummten allmählich; schon nach einem halben Jahre waren sie wunderbar verändert. Sie sahen gesünder und kräftiger aus, waren besser gekleidet, traten sicherer auf und konnten äußerlich schon gut den Vergleich mit manchen Letten aushalten. Auch in ihren Leistungen. Aus bleichen, abgezehrten Gestalten waren stramme, gut aussehende Bauernburschen geworden, die auch viele ihrer Berufsgenossen aus Ostdeutschland durch ihr offenes und starkes deutsches Wesen übertrafen. Das hat sich dann immer weiter gesteigert, und schließlich waren die Kolonistenknechte zumindest so tüchtig wie die Letten, nur daß sie ihrer Artung nach lauterer waren und als Deutsche uns näher standen. Sie hatten es selber bald herausgefühlt, daß sie den Letten innerlich überlegen waren, sie fürchteten sich auch nicht mehr vor Zusammenstößen und flößten allen, die ihnen nachstellten, mit ihren Fäusten schnell die nötige Achtung ein. Viele Wandlungen, die man kaum für möglich gehalten hätte, ergaben sich wie von selbst. Manchen Aberglauben hatten sie mit anderen Rückständigkeiten und Vorurteilen in der gesunden Luft Kurlands schon im Laufe weniger Wochen abgelegt. Sie wuchsen in die neue Gesittung, die ja ihres Blutes war, erstaunlich schnell und bald auch bewußt hinein. Es erging ihnen wie Pflanzen, die man aus dumpfem Keller an die warme Frühlingsluft trägt, die nun die verlorene Entwicklung in kurzer Zeit aufholen und ungehemmt Kraft und Schönheit entfalten.

Ihre äußere Wandlung war in der Tat gewaltig. In Wolhynien waren sie von ihren polnischen und russischen Gutsbesitzern wie auch von den Beamten verachtet und ausgenutzt, oft verfolgt worden; in Kurland empfing sie der Gutsherr mit offenen Armen als völkische Mitkämpfer, als deutsche Brüder, und mit ihm begrüßte sie nicht minder herzlich die baltische Oberschicht, die trotz allem noch dem Lande die deutsche Färbung gab. Hier konnten sie sich zum erstenmal in ihrem Leben als freie Bürger, ja als zur deutschen Herrenschicht gehörig betrachten. Hier waren die Behörden, selbst der öffentliche Sicherheitsdienst teilweise noch in deutschen Händen. In Wolhynien waren sie in einem von den Zwiebelkuppeln der russischen Kirche beherrschten Lande eine kaum geduldete Sekte ohne Pfarrer, ohne Kirche in erreichbarer Nähe, hier waren sie in einem rein lutherischen Lande; sie sahen von ihren Fenstern aus den schlanken, weißen Turm ihrer eigenen Kirche, in der ein deutscher Seelsorger sie freudig als seine ersten deutschen Bauern betreute. Dort hatten sie um ihre ärmlichen Schulen kämpfen müssen, hier baute sie ihnen der Deutsche Verein, und alle Balten wetteiferten, ihnen die Schätze äußerer und innerer Gesittung entgegenzubringen. Es war doch ein deutsches Land, in das sie gekommen waren. Welch einen Eindruck mußte es auf diese so wenig verwöhnten Menschen machen, das mit Augen zu schauen, wovon sie nur gehört oder geträumt hatten; sie meinten, ihre wahre Heimat wiedergefunden zu haben, "das gelobte Land", wie sie es in ihrer biblischen Sprechweise nannten, und welch ein Glück war es für mich, dies fördernd mitzuerleben.

Erweiterung

So ging der Sommer hin. Es kam im Herbst der Martinitag, an dem in ganz Kurland die Arbeitsverträge für das neue Jahr geschlossen wurden, die dann freilich erst zu Georgi, also im April des nächsten Jahres in Kraft traten. Ich hatte mich schon lange auf diese Stunde gefreut; denn sie gab mir Gelegenheit, den Siedlern mein Vertrauen zu beweisen und ihnen neue Hoffnungen einzuflößen. Es war mir möglich geworden, fast alle aufrücken zu lassen, sie auf den bisher von ihnen besetzten Gütern in kleine Aufseherstellen als Stallmeister, Viehpfleger und Forstwarte, die bei uns Buschwächter hießen, zu befördern. Auch die Handwerkerbetriebe dieser Höfe konnte ich ihnen übergeben; ihre bisherigen, dadurch, freiwerdenden Knechtstellen füllte ich mit Neuankömmlingen aus Wolhynien auf. Schließlich ernannte ich die Küsterlehrer, die als "Schildreiter" im Katzdanger Haupthofe die Landwirtschaft ausreichend erlernt hatten, zu Verwaltern auf jenen Gütern, die nun völlig mit Deutschen besetzt waren. Es bedeutete natürlich für die Siedler außerordentlich viel, jetzt ganz unter sich und keiner lettischen Willkür mehr preisgegeben zu sein. Ihre Freude war groß. Sie sahen die Möglichkeit vorwärts zu kommen; sie erkannten vor allem, daß man sie nicht gerufen hatte, um ihre Arbeitskräfte auszunutzen, sondern, um ihnen zu helfen und die deutsche Sache zu fördern.

Ich räumte nun noch zwei Güter von allen Letten und besetzte auch hier die gehobenen Stellen mit den erstgekommenen und die Knechtstellen mit neuherbeigezogenen Siedlern. Dies ergab im ganzen weit mehr als die Verdoppelung ihrer bisherigen Anzahl. Bald waren es an hundert Familien, eine stattliche, in sich geschlossene Gemeinde, die sich ihrer Kraft und Bedeutung schon bewußt war.

Landknechte

In Kurland hatte man neben den "Deputatknechten" die sogenannten Landknechte, Instleute, die ein verhältnismäßig großes Landstück zu eigener Bebauung erhielten und statt des Pachtzinses je nach Vertrag zwei bis vier Tage der Woche auf dem Gute arbeiteten. Sie hatten eigene Werkzeuge, aber auch eigenes Vieh, Pferde und Kühe, sie waren Landwirte im kleinen. Bisher wäre es nicht möglich gewesen, Siedler in solche Stellen zu bringen, weil sie die Verhältnisse in Kurland, die Art seines Ackerbaues nicht kannten und außerdem keine Mittel besaßen, sich den notwendigen toten und lebenden Wirtschaftsbestaud anzuschaffen. Nun bewog ich einige Siedler, die sich schon als Arbeiter eingelebt hatten. Landknechte zu werden, wozu ich ihnen das Geld vorschoß, und gerade diese Form der Anstellung sagte ihnen besonders zu, war es doch eine Art Vorschule und Vorbereitung dafür, später einmal vollwertige Pächter oder Besitzer zu werden.

Für den dadurch erforderlichen Zuzug brauchte ich nicht mehr zu werben. Alle hatten an ihre Verwandten geschrieben, und ich wußte mich des Andrangs derer, die kommen wollten, kaum zu erwehren. Es war wie bei einem durchstochenen Damme, wenn die herausstürzenden Wasser die Durchbruchstelle bald selber erweitern. Ich war somit bei Auswahl der Neukömmlinge von keiner Vermittlungsstelle, auch nicht von der durch uns gemeinsam in Wolhynien begründeten, abhängig, sondern konnte mich auf die Empfehlungen meiner Küsterlehrer und der schon bei mir eingebürgerten Leute verlassen, wobei sich die etwas mühsame, doch sichere eigene Auswahl wie immer jeder amtlichen Anwerbe überlegen zeigte. Dadurch, daß sich auf diese Weise große Verwandtenkreise bei mir zusammenfanden, fühlten sich die einzelnen wiederum heimischer und glücklicher.

Ich besorgte auch für Nachbarn und Freunde auf deren Bitten Knechte und Unterbeamte und tat es um so lieber, als bei dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Siedler jeder Neukömmling die anderen und damit auch meine eigene Siedlung stützte. Auch wollte ich die Siedlung ja nicht nur in Katzdangen aufbauen, sondern sie über ganz Kurland ausbreiten. Was half es, wenn ich nur Katzdangen dem Deutschtum gewann! Hier, wie auch bei der später einsetzenden Landsiedlung konnte es sich für mich nur darum handeln, ein Beispiel aufzustellen, eine Möglichkeit zu beweisen, ein Ziel für alle zu setzen.

Seelische Opfer

Hierfür durfte ich kein Opfer scheuen, um eine geschlossene und damit für die Dauer gesicherte Siedlung zu schaffen, war es notwendig, alle Letten, auch die alten lettischen Beamten jeweils auf den besiedelten Gütern und schließlich in ganz Katzdangen zu entlassen; denn jeder nachbleibende Lette mußte bewußt oder unbewußt als Gegner der Kolonisten, als Spaltpilz der Siedlung wirken. Das war der schwerste Teil meiner Siedlungsarbeit. Durch meine bisherige, stete Auslese unter meinen lettischen Angestellten waren gerade in den höheren Stellungen manche, die ihres Alters, ihrer langen Dienstzeit, ihrer Tüchtigkeit und Treue wegen kaum zu entlassen waren. Und doch mußte der Einzelne dem Ganzen geopfert werden. Ich habe in jedem Sonderfalle durch hohe Abfindungen und Ruhegehälter die Gerechtigkeit zu wahren, die Härte auszugleichen gesucht. Doch schmerzt es mich, daran zu denken. Ich frage mich, ob ich heute noch jene rücksichtslose Zielstrebigkeit der Jugend besäße. Aber ohne sie hätte ich nicht siedeln können. Ein guter Gärtner muß ein scharfes Messer und ein hartes Herz besitzen. Ein Staatsmann muß Treue und Dank, die er Einzelnen schuldet, dem Wohle seines Volkes opfern, wenn er wahrhaft treu sein will; das ist das Schwerste, was ihm sein Schicksal auferlegt. Auch ich in meinem kleinen Kreise würde es mir nie als Verdienst anrechnen, für die Siedlung gelebt, ja gedarbt zu haben, wohl aber, daß ich manche liebgewonnene Menschen trotz Treue und Dankbarkeit der deutschen Sache geopfert habe. Aber sonst wäre meine Arbeit Stückwerk geblieben.

Wie sehr solche Gefühlsrücksichten die Siedlungsarbeit erschwerten, mag eine Erfahrung mit einem Nachbarn zeigen. Er trat an mich mit der Bitte um Kolonisten heran, mit denen er den Anfang einer Siedlung machen wollte. Ich schlug ihm zunächst einen Pferdepfleger vor, den ich durchaus empfehlen könne. "Nein, das geht nicht; meiner ist schon über zwanzig Jahre im Dienst." "Dann sucht ein guter deutscher Stellmacher eine Beschäftigung." "Ja, wenn meiner nicht so ausgezeichnet wäre, daß mich alle Nachbarn um ihn beneiden." "Wie wäre es denn mit einem bewährten Viehpfleger aus Wolhynien?" "Nein, der wäre für mich zu teuer, ich habe mit meinem jetzigen einen sehr günstigen Vertrag." "Gut, so habe ich noch einen ausgezeichneten Knecht, den ich Dir, wenn Du ihn zum Waldhüter machtest, zu seinem und Deinem Besten abtreten würde." "Den würde ich gerne nehmen, aber mein Buschwächter hat sich 1905 beim Aufstande als einziger treu bewährt. Wie könnte ich ihn entlassen!" "Ja glaubst Du denn wirklich, daß ich selber keine fleißigen und tüchtigen und treuen Letten in meinem Dienste gehabt habe, die ich mit großen Geldopfern und — was mehr wiegt — mit blutendem Herzen abgelöst habe? Wer keine Opfer, vor allem keine seelischen Opfer bringen will, soll den Gedanken an Siedlung für immer aufgeben."

Unter solchen Kämpfen, Freuden am Ganzen und Schmerzen im Einzelnen gelang es mir, in wenigen Jahren die Wirtschaften meiner zwölf Güter rein deutsch aufzubauen und damit in kurzer Zeit einen festen deutschen Kern zu bilden, an den sich mit Sicherheit weiteres Deutschtum anschließen konnte.

Landbeschaffung

Denn bald nach ihrer Ankunft waren die Kolonisten von selber mit der anderen entscheidenden Frage zu mir gekommen. Sie berichteten von Brüdern und Onkeln, Vettern und Freunden, die Geld besäßen, aber in Wolhynien kein Land kaufen könnten und gerne nach Kurland übersiedeln würden. Wer war froher als ich! Selbstverständlich sollten ihre Verwandten uns besuchen kommen, und dies brauchte ich nicht zweimal zu sagen. Denn nun kamen sie, fast jeden Tag eine neue Gruppe, zumeist fünf bis sechs Männer, viele mit ihren Frauen, die sich "das Kurland beschauen" wollten. Ich habe schließlich für sie allein zwei Küsterlehrer und vier Pferde halten müssen, um ihnen alles zu zeigen und sie zu den Stellen zu fahren, wo sie voraussichtlich Grundbesitz erstehen konnten. Ein größeres Haus in Katzdangen war nur für diese Besucher eingerichtet, sie wurden dort auch verpflegt; häufig nächtigten dort bis dreißig solcher Gäste. Jede Gruppe wollte mich persönlich sprechen, und ich mußte immerfort das Gleiche für alle Neuangekommenen wiederholen, was oft für mich eintönig war, aber doch wieder Anpassung an die verschiedenartigen, nach Menschen und Umständen wechselnden Anfragen und Wünsche erforderte.

Landhunger

Es war damals leicht, in Kurland Land zu erwerben. Der Lette hängt im allgemeinen nicht an seinem Grundbesitz; er ist jederzeit bereit, ihn zu verkaufen, sobald er errechnet, daß die Zinsen der Kaufsumme auch nur um einen Pfennig höher sein werden als der Ertrag, den er selber herauswirtschaften kann, während umgekehrt die Kolonisten nur fragten: "Kann der Boden mich und meine Familie ernähren, ganz gleich, was ich für ihn gezahlt habe." Und nur dies war wirklicher Landhunger. Der von hetzerischer Stimmungsmache immer wieder vorgebrachte "Landhunger der Letten" bestand in dem durchaus begreiflichen Wunsche, umsonst Land zu erhalten. Unter solchen Bedingungen wird es wohl wenige Menschen geben, die nicht "landhungrig" sind. In diesem Sinne bin auch ich selbst als Besitzer von zwölf Rittergütern immer landhungrig gewesen. Aber etwas anderes ist es, wenn jemand, wie hier die Kolonisten, den ihm zum Leben nötigen Acker begehrt, ob es sich nun um landlose Bauernsöhne oder um ein ganzes Volk ohne Raum handelt, das an solchem Mangel körperlich und seelisch verdirbt (Anm. 6). Den Kolonisten fehlte in Wirklichkeit Land, sie suchten es um seiner selbst willen, sie wollten es sogar überzahlen und sich nicht nur wie die Letten durch seinen kostenlosen Erwerb bereichern. Wie glücklich waren sie, in Kurland den Boden zu finden, den sie sich, so durften sie in menschlicher Kurzsichtigkeit wähnen, für immer erringen konnten.

Die ersten Bauernhöfe

Trotzdem ging es mit dem Landerwerb anfangs nicht so vorwärts, wie ich hoffte. Dort, wo die Kolonisten Land kaufen wollten, mochte der Lette nicht veräußern, und manchmal war es auch umgekehrt. Da habe ich denn, um den ersten Anstoß zu geben, selber zwei Bauernhöfe erstanden und sie unter dem gezahlten Preise gleich an Siedler weiter vergeben. Diese ersten baltisch-deutschen Bauern, die auf solche Weise ein unerwartetes Geschenk erhalten hatten, waren hoch erfreut. Sie wirtschafteten sich bald aufs beste ein, und ihre Höfe konnten nun der Siedlung zur Werbe dienen. Zu ihnen sandte ich fortan alle Neukömmlinge, die sich über Kurland unterrichten wollten.

Aufteilung von Gütern

Nun war auch hier der Damm gebrochen. Es wurden mehrfach lettische Bauernhöfe von Kolonisten gekauft. Aber täglich kamen neue Scharen, und um dieser mich wie ein Wunder anmutenden Bewegung entgegenzukommen, sie zu beschleunigen, wenn möglich noch zu verstärken, beschloß ich, ganze Güter an die Siedler aufzuteilen. Das erste war ein mittelgroßes Gut, Post-Drogen, das oft von Hand zu Hand gegangen war, kein alter Sitz mit wertvollen Überlieferungen (Anm. 7).

Hier teilte ich jedem bisherigen Gutsgebäude ein Stück Land zu und verkaufte die so entstehende Einheit je einem Siedler. Da der Gutshof fast ausnahmslos inmitten der Felder und Wiesen lag, war es leicht, von dieser Mitte aus sternförmig zwischen den geplanten Besitztümern Grenzlinien bis zum Rande des Gutes zu ziehen. Dadurch entstanden Dreiecke, in deren oberem spitzen Winkel das alte Wirtschaftsgebäude lag, das nun dem neuen Eigentümer als Wohnung, Stall und Scheune dienen sollte. Diese meist großen, aus Feldsteinen oder Ziegeln errichteten Gebäude blieben dadurch erhalten. Sie abzureißen und dafür in der Mitte der einzelnen Besitze neue zu bauen, wie es in Deutschland von Siedlungsverbänden geschieht, wäre zu teuer geworden, liegt doch ein Hauptwert jeder entwickelteren Wirtschaft in dem von vielen Geschlechtsfolgen allmählich in Baulichkeiten angelegten Vermögen. So entsprach die Anzahl der Teile, in die das bisherige Gutsland zerlegt wurde, der Zahl seiner Gebäude. Wie groß jedes einzelne Stück wurde, hing von der Kaufkraft der Siedler ab. Sie kamen ja meist in größerer Anzahl, und die Kunst des Siedelns bestand darin, daß jeder soviel Land erhielt wie er bezahlen und bebauen konnte, was oft tagelange, schwierige Unterredungen erforderte. Aber schließlich einigte man sich trotz allem und, wenn das eine oder andere Grundstück auch zunächst übrig blieb, so fand sich doch bald ein neuer Käufer. Die oft beträchtlichen Waldteile schloß ich meinen Forsten an, was gut ging, da ich immer nur an meinen Grenzen gesiedelt habe. Ebenso behielt ich das frühere Wohnhaus mit dem Obstgarten, dem kleinen Parke und einer geringen Ackerfläche für mich, da nach kurländischem Landrecht ein Gut niemals ganz aufgeteilt werden durfte. Dieses Ackerland verpachtete ich später an die anliegenden oder auch an andere Siedler, während ich das frühere Wohnhaus mit Garten der neu entstandenen Gemeinde gegen eine mein Besitzrecht wahrende Zahlung von einem Rubel (2,16 Mark) jährlich zur Einrichtung einer deutschen Schule, eines Betsaales und Versammlungsraumes und zur Wohnung für den Lehrer überließ. Mit dem Nutzungsrecht auf den meist großen Obst- und Gemüsegarten trug die Siedlergemeinde schon einen beträchtlichen Teil des Gehaltes an den Lehrer ab. Äußerlich ergab sich so das hübsche Bild, daß die Kolonistenhäuser, die ja alte Wirtschaftsgebäude waren, rings um das Gemeindehaus, eines nahe dem anderen, standen. Das hatte für den Schulbesuch der Kinder, für den sonntäglichen Gottesdienst und für das gesellige Zusammenleben seine großen Vorteile. Es war auch für die junge Gemeinschaft ein gewisser Schutz gegen lettische Angriffe, denn jeder wohnte auf Rufweite von seinen Nachbarn entfernt. Neben diesen Vorzügen spielte es keine große Rolle, daß die Gebäude nicht in der Mitte der neuen Siedlungen, sondern in einem spitzen Winkel der Besitze standen, sie lagen immerhin nicht zu weit ab. An ihrer dem Acker zugekehrten Rückseite konnte sich der Fruchtgarten des Siedlers ausbreiten, und die so manchen Zwist schaffenden Hühner durften dort ungestört ihr Wesen treiben, wie überhaupt alle nachbarlichen Streitpunkte auf diese Weise möglichst ausgeschaltet waren.

Waren nun die neuen Grenzlinien gezogen und ein jedes Stück von einem geprüften Landmesser auf einer Karte nach seiner Größe sorgfältig verzeichnet, so ließ sich der einzelne Kaufpreis schnell errechnen, indem man den Schätzungswert des Waldes und der als Restgut verbliebenen Ackerfläche vom Gesamtpreise, den das Gut beim Ankauf gekostet hatte, abzog und den Rest unter die Siedler, je nach der Größe der von ihnen erworbenen Grundstücke, aufteilte. Der Preis betrug durchschnittlich 100 Rubel (= 216 Mark) für den Hektar. Die Unterschiede aus der verschiedenen Güte des Bodens waren schon bei der ersten Beratung berücksichtigt worden und wurden bei der Festsetzung des Preises zwischen den einzelnen Käufern, im Notfalle durch das Urteil eines Unparteiischen, leicht ausgeglichen. Das Ergebnis wurde sofort beim Gericht in die Grundbücher eingetragen. Das verursachte keine allzu großen Kosten und konnte im Laufe einiger Monate geregelt werden (Anm. 8). Ich habe selbstverständlich darauf gehalten, nichts zu gewinnen, aber womöglich auch nichts zu verlieren, um zu beweisen, daß die Siedlung ohne Zuschuß möglich sei. Dieser Beweis ist in Kurland gelungen. Alle meine Siedler sind mit ihrem Kaufe zufrieden gewesen; ich erinnere mich keiner Klage, wie auch keines Siedlers, der fortgezogen wäre und seinen Besitz an einen anderen weiterverkauft hätte. Da sie die volle Summe nicht sofort zahlen konnten, wurden die bisher auf dem Gesamtgute lastenden Schulden unter die Käufer nach der Größe ihres Besitzes verteilt, und was nach Abrechnung der Anzahlung noch übrig blieb, als Grundschuld auf mich verschrieben, die dann auch bald von den Siedlern abgetragen wurde.

Freie Siedlung

Trotz unseren niedrigen Getreidepreisen war es für einen Bauern eben doch möglich, in Kurland vorwärts zu kommen, man mußte ihm nur, nachdem er einmal in den Sattel gesetzt war, das Reiten selbst überlassen, was gerade in Deutschland durch viele gutgemeinte, in Wirklichkeit aber unglückliche amtsherrliche Bestimmungen schon vor dem Weltkriege recht erschwert war. Bauern, die die Preußische Regierung in Posen angesiedelt hatte, sind zu mir gekommen, weil sie in Kurland "freier" seien. Sie flüchteten vor der sie mit allzu viel Liebe und Gründlichkeit bevormundenden preußischen Beamtenherrschaft. Einer meiner Freunde schlug einmal vor, über das Hochtor eines Verwaltungsschlosses für Siedlungssachen als Krönung ein Marmorbild zu setzen: "Die Vergewaltigung der Ceres durch den heiligen Bürokratius." Im Gegensatz zu jeder Art von Bevormundung stand es meinen Siedlern frei, ihren Acker so zu bebauen, wie es ihnen beliebte. Keine Vorschrift hinderte sie, nach ihrem eigenen Ermessen und darum auch den wechselnden Umständen besser angepaßt vorzugehen 15).

So kümmerte ich mich auch nicht um die innere Ausgestaltung des jedem Siedler zugeteilten Gebäudes. Der neue Käufer zog zumeist sofort mit seiner Familie ein, hauste dort zunächst, so gut es ging, und baute dann bald in einem Teile seine Wohnung aus; daneben ließ er, wenn das Gebäude ein Stall gewesen war, einen Teil davon für Vieh und Pferde bestehen und richtete das letzte Drittel zur Scheune und Tenne ein. War es eine Scheune gewesen, so blieb eben ein Teil als solche bestehen, während ein anderer zum Stall und schließlich das eine Ende zur Wohnung ausgebaut wurde. All diese Einzelheiten zu bestimmen, war ausschließlich Sache des neuen Besitzers. Ein etwas einfaches, aber billiges und im Grunde den Siedlern mehr zusagendes Verfahren, als wenn ihnen jedes Gebäude nach Muster F schon fertig hingestellt wird, wie es manchen früheren Amtsherrschern als Wunschbild vorschwebte. Abgesehen davon, daß im Grunde doch die Siedler die großen Kosten zu tragen haben, können sie dabei nicht ihren eigenen Geschmack walten lassen, ihre Schaffensfreude wird erstickt, sie kommen in eine von fremden, sie wenig verstehenden Menschen ersonnene Schöpfung, vieles paßt ihnen nicht, und oft dürfen sie es nicht einmal ändern, ehe nicht die hohe Kaufsumme bezahlt ist. Es ist nicht ihr eigener Rock, der, möchte er recht oder schlecht geworden sein, ihnen doch gefallen hätte, weil er eben von ihnen selber erdacht und zugeschnitten gewesen wäre, es ist ein fremdes, oft mit Liebe und Sorgfalt geschneidertes, aber eben doch nicht ihnen eigens angepaßtes Gewand, oft ein schönes, aber immer doch ein ungewohntes und jedenfalls ein sehr teures Kleid. Ist es ein Wunder, daß man das Eigengeschaffene, worin so viele Erinnerungen, Überlegungen, Sorgen und Freuden hineingewebt sind, mehr liebt als das schönste Geschenk?

War ein solches Vorgehen nur mit den Kolonisten möglich, die einfacher und anspruchsloser sind als der reichsdeutsche Siedler, der oft aus der Stadt kommt und sich scheuen würde, auf so wenig vorbereitetem Grunde überhaupt anzufangen? Freilich war dies den Kolonisten durch die geringen Kosten und die größere Anpassungsfähigkeit meiner Siedlungsart sehr erleichtert. Solange es aber in Deutschland jüngere Bauernsöhne, Knechte und noch unverdorbene, deutsch fühlende Stadtkinder gibt, solange wird es auch Landhungrige geben, Millionen, die nur zu gerne siedelten, wenn sie nicht durch die hohen Preise der Siedlungsgesellschalten und die von diesen drohende Bevormundung abgeschreckt würden. Meine Kolonisten stammten ja schließlich auch nicht alle vom Lande. Viele waren in Litzmannstadt (Umbenennung von uns. Der Verlag) und anderen Großgewerkstädten des früheren Königreiches Polen Arbeiter gewesen. Aber die echt germanische Freude eines jeden Deutschen am Schaffen und damit auch am eigenen Werke ließ sie alle Schwierigkeiten überwinden. Das habe ich oft erfahren, als ich später bei den Baltikumtruppen den Soldatensiedlungsverband gründete, wo sich mit der Mehrheit aller Kämpfer gerade frühere Fabrikarbeiter zum Siedeln drängten. Ihre Augen leuchteten, wenn ich ihnen von meiner Art zu siedeln erzählte. Sie hätten mit Hütten vorlieb genommen, sie hätten, um eigenes Land zu erwerben, gerne zunächst im Freien übernachtet. Sie hätten anfänglich gewiß Ungeschicklichkeiten begangen, aber sie hätten sie auch bald selber erkannt, und ihr angeborener Nützlichkeitssinn hätte sie bald das Richtige gelehrt, besser als es manche Siedlungsbeamten der "Systemzeit" wußten, die ja — leider — nicht in den Wohnungen zu wohnen, nicht in den Betrieben zu wirtschaften brauchten, die sie mustermäßig am grünen Tisch erdachten.

Persönlicher Einsatz

Es heißt oft, die Siedlungen gediehen in Deutschland schlecht, weil sich der Deutsche nicht mehr dazu eigne. Das ist falsch. Man kann noch viele Deutsche ansiedeln, man darf es nur nicht so machen wie bisher. Vor allem ist eines nötig, daß man sich dieser großen Aufgabe mit seiner ganzen Persönlichkeit hingibt. Jeder zuverlässige Deutsche mit gesundem Urteil und mit den notwendigen landwirtschaftlichen Kenntnissen kann auf eigenem oder fremdem Besitz Siedlungen, ja musterhafte Siedlungen schaffen, bessere als die bestgesinnte Behörde, wenn er sein Herz hingibt. Es muß ein einheitlicher, heißer Wille dabei sein. Ich bilde mir nicht ein, viel Gestaltungsgabe zu besitzen, und verstehe von Landwirtschaft gar nichts; aber ich habe die Aufgabe, ich habe die einzelnen Menschen geliebt, viel mehr geliebt, als ich jemals meine frühere Arbeit für die Letten lieben konnte, und so habe ich schließlich viertausend Deutsche in Kurland heimisch gemacht. Gerade weil ich nicht besonders geschickt in dieser Arbeit war, kann ich mich um so besser als Beispiel dafür anführen, daß jeder einzelne Großgrundbesitzer siedeln kann, siedeln soll, und daß auch der Staat die Siedlung selber in die Hand nehmen mag, sie dann aber nicht von Ausschüssen und Behörden, sondern von einzelnen, möglichst selbständig gestellten, auf ihre Ehrenhaftigkeit und ihre Liebe zur .Sache hin sorgfältig ausgesuchteil Männern durchführen lassen sollte. Auch die uneigennützigsten Siedlungsgesellschaften arbeiten zu teuer, schon durch die Zeit ihrer Zwischenwirtschaft, überdies zu langsam und zu sehr vom grünen Tische aus, darum haben sie trotz aller staatlichen Hilfe in Preußen verhältnismäßig weniger erreicht als Einzelpersonen bei uns, die gegen den russischen Staat und eine feindliche Umwelt, aber den Umständen angepaßt, billiger, einfacher und darum glücklicher siedelten.

Pächter

Ich erkannte immer mehr, daß unter den damaligen Verhältnissen nur die Seßhaftmachung eine sichere Grundlage für jede Siedlung bot. Alle meine Höfe waren schließlich mit deutschen Knechten besetzt, und ebenso waren alle meine Beamten rein deutsch; aber wie leicht konnte sich der Arbeiterstand nach meinem Tode unter einem anders gesinnten Nachfolger ändern. So begann ich, da ich meinen alten Majoratsbesitz weder verkaufen durfte noch wollte, eines meiner Güter nach dem anderen in gleicher Weise aufzuteilen und an die Siedler zu verpachten. Zuguterletzt habe ich selber sogar ein Staatsgut gepachtet und in Form von Halbkörnerwirtschaft an die Kolonisten weiter vergeben, was freilich vor der russischen Regierung, die den deutschen Siedlern nicht gerade wohlwollte, etwas gewagt war. Diese Pachtungen gaben den Kolonisten die Möglichkeit, sich allmählich auf den Kauf von eigenem Grund und Boden vorzubereiten. Sie lernten dort ebenso wie die Landknechte unsere ländlichen Verhältnisse und eine zweckmäßige Wirtschaftsart bestens kennen, zogen sich das Vieh auf, erwarben die Maschinen und Werkzeuge, ersparten sich schließlich auch bares Geld und konnten so leichter und mit mehr Verständnis in der Nachbarschaft nach verkäuflichem Lande Umschau halten. Die Pachtwirtschaft bot ihnen den geeigneten Ansatz zum Einbruch in den lettischen Bauernbesitz, eine Möglichkeit, die sie bald auch ohne meine Anleitung auszunutzen wußten. Mancher Katzdanger Bauernhof ging so aus lettischer Hand auf die Siedler über.

Vielseitigkeit

So konnte jeder neue Kolonist in Katzdangen je nach seinem Vermögen eine Stellung finden: als Knecht, Landknecht, Halbkörner, Pächter und schließlich als Eigentümer, sei es auf den von mir aufgeteilten Gütern, sei es auf den aus lettischer Hand angekauften Bauernhöfen. Ein jeder Siedler hatte auch die Möglichkeit, allmählich in eine höhere Stellung aufzusteigen. Und vielen ist es gelungen. Mancher arme, aber fleißige und tüchtige Siedler hat bei mir als Knecht angefangen und ist in kurzer Zeit Landknecht, dann Pächter und schließlich Besitzer geworden. Das fiel gerade denen leichter, die viele Kinder hatten, da diese, zur Ehrfurcht erzogen, ihren Eltern nicht, wie oft städtische Arbeiterkinder, eine Last, sondern im Gegenteil eine willkommene Hilfe bedeuteten. Gemeinsam arbeitete sich die Familie hoch, um so eher, je zahlreicher sie war. Ein ehemals armer Kolonist, der auf diese Weise aufgestiegen war und einen lettischen Bauernhof auf einem Berge gekauft hatte, fragte mich einmal mit strahlenden Augen: "Lebe ich hier nicht wie ein Baron?" Und in der Tat. Diese Menschen waren wirklich glücklich, sie glaubten die Zukunft für sich zu haben, und die Möglichkeit, daß die Kinder dieses Mannes einmal einen größeren Besitz haben könnten als der ,,Baron", war gar nicht ausgeschlossen. Daß eine solche Entwicklung durch die lettische Enteignung meines Besitzes schon so nahe gerückt war, ahnten wir beide freilich nicht.

Grundsätzliches

Es trifft also nicht zu, wenn der leider jung verstorbene Dr. R. Schulz in seinem verdienstvollen Buche "Der deutsche Bauer im Baltikum" (Berlin 1938) meine Siedlung vorzüglich als ein Ansetzen von Knechten und Pächtern hinstellt und hierin einen Gegensatz zu der Siedlungsart des Herrn Silvio Brödrich 16) sieht, der nur Eigentümer schuf. Auch ich habe die Schaffung eines freien, deutschen Bauernstandes als entscheidend, als letztes Ziel meiner Arbeit angesehen und habe darum vor allem meine Eigentümersiedlung gefördert. Wenn man einen Unterschied meiner Siedlungsart zu der Herrn Brödrichs, mit dem ich nie eine Meinungsverschiedenheit gehabt habe, finden will, so liegt er eher darin, daß ich mit meiner Arbeit nur ein Beispiel zur Nachahmung für die anderen Gutsbesitzer schaffen wollte, meine Siedlung also auf ein einheitliches Gebiet mit Katzdangen im Mittelpunkt begrenzte, sie dafür aber möglichst gediegen auszubauen suchte. Mir war bewußt, daß ein Einzelner doch nie ganz Kurland besiedeln konnte, selbst wenn er über unbeschränkte Mittel und Arbeitskraft verfügt hätte. Es galt, meine Standesgenossen von der Möglichkeit und dem Nutzen der Siedlung zu überzeugen, die darum gar nicht sorgfältig genug durchgeführt werden konnte. Der Anblick zu vieler zerschlagener Gutshöfe, zu hastig aufgeführter Siedlungen und eben gerodeter Wälder hätte meine Nachbarn abgeschreckt; gut geordnete Verhältnisse sollten sie zur Nachahmung anregen.

Ebenso mußte man, wenn ganz Kurland der Siedlung erschlossen werden sollte, auch deutsche Knechte und Pächter heranziehen. Alle Güter zu zerschlagen war unmöglich, schon weil viele von ihnen Majorate waren. Eine Aufteilung im großen wäre überdies auf den einmütigen, unüberwindlichen Widerstand aller Gutsbesitzer gestoßen, abgesehen davon konnte eine Schwächung, geschweige denn Vernichtung dieser bisher stärksten Stütze unseres Deutschtums von keinem Deutschen gewünscht werden, wie sie auch nicht einmal im Vorteil der Siedler selber gelegen hätte. Wenn man also doch mit dem Großgrundbesitz rechnen wollte, mußte man hier der deutschen Einwanderung andere Wege öffnen, um auch dem Gutslande durch Pächter und Knechte ein deutsches Gesicht zu geben. Auch hierfür sollte Katzdangen ein lockendes Beispiel bieten.

Ich habe also meine Siedlungsarbeit mit Absicht vielseitig gestaltet. Nur wenn es gelang, die Mehrzahl der Gutsbesitzer für ein gleichmäßiges Siedeln nicht nur mit Besitzern, sondern auch mit Pächtern und Knechten zu gewinnen, war es möglich, Kurland durchgreifend zu verdeutschen, was wir doch alle wünschten. Daß unvorhergesehene Zeitumstände dies nicht gestattet haben, ist kein Beweis, daß ein solches Vorgehen falsch und für andere nicht anwendbar wäre. Es handelte sich bei uns ja nicht um eine soziale, sondern um eine nationale Frage. So war es jedenfalls berechtigt, neben der von Dr. Schulz vorgezogenen alleinigen Besitzersiedlung auch meine Siedlungsart durch die Tat als durchführbar zu beweisen.

Dr. Schulz findet in seinen mir sonst so wohlwollenden Ausführungen diesen "Mangel" meiner Siedlung auch dadurch bestätigt, daß mein Werk durch Hineinnahme von Knechten und Pächtern gegen die Folgen des Weltkrieges weniger widerstandsfähig gewesen sei 17). Er fügt freilich selber hinzu, daß niemand die Nähe des Weltkrieges habe ahnen können. In der Tat hätte man sich bei Voraussicht des Krieges überhaupt fragen können, ob vor einer solchen, von außen nahenden Entscheidung irgendwelche örtlichen Maßnahmen am Platze seien, denn dann lag das Schicksal des Landes ja sowieso nicht mehr in unserer Hand. Da aber niemand den Weltkrieg voraussagen konnte, war ein geräuschloses, ruhiges, dafür aber gesicherteres Vorgehen nicht unberechtigt. Daß Pächter und Knechte einem lettischen Ansturme, wie er durch die unerwarteten Kriegsfolgen entfesselt wurde, eher erliegen konnten als Besitzer, ist selbstverständlich. Sollte man sie deswegen nicht ins Land rufen? Auch die Lage der Besitzer ist nach dem Weltkriege auf die Dauer unhaltbar geworden. Aber wer unter uns konnte damals die Zufallsgeburt des lettischen Staates voraussehen? Daß durch sie der auf Knechte und Pächter aufgebaute Teil meiner Arbeit schneller zerstört wurde, wie Dr. Schulz hervorhebt, spricht nicht gegen sie. Meine Besitzer haben sich dafür um so besser gehalten (Anm. 9). Wollte man ganz Kurland deutsch gestalten, so konnte man die Knechte und Pächter nicht auslassen. Auch mein Herz hing vor allem an den Besitzern. Ich bin der großzügigen Arbeit Herrn Brödrichs mit herzlicher Anteilnahme gefolgt, halte aber die Vielseitigkeit und damit die Vollständigkeit meiner Siedlungsart auch für berechtigt. Sie und die Arbeit Brödrichs haben sich vielfach aufs glücklichste ergänzt.

Nur so möchte ich diesen Bericht über meine Siedlungsarbeit gewertet wissen. Ich schreibe hier auch keine Geschichte der Kolonisation in Kurland. Ich bin auf die Siedlung durch einen Zufall gekommen. Sie ist dann auch von anderen aufgenommen worden, besonders eben von Herrn Brödrich, der nicht so zusammenhängend wie ich, dafür aber an verschiedenen Stellen Kurlands und im ganzen viel mehr Kolonisten angesiedelt hat. Ich kann nur von Katzdangen berichten, weil ich nur meine eigene Siedlung von Grund aus kenne und nur sie richtig beschreiben kann, wobei ich aber doch manches Allgemeingültige, auch für andere Fälle Anwendbare mitzuteilen hoffe.

Widerstände

Darum muß ich nun auch die Widerstände erwähnen, die sich neben allen in der Sache selber liegenden Schwierigkeiten mir entgegenstellten und sich in der einen oder anderen Form auch sonst wiederholen könnten.

Meine geldliche Lage, die trotz dem großen Besitze in jener für die kurländische Landwirtschaft ungünstigen Zeit nie wirklich gut war, wurde durch die vielen Sonderopfer für den Deutschen Verein und nun erst recht für die Siedlung sehr belastet. Ich bin mein Leben lang eigentlich nie ohne geldliche Sorgen gewesen, es sei denn während meiner Schulzeit in Mitau, wo mein freigiebiger, wenig erzieherischer Vater mir reichlich Taschengeld zusteckte. Auf der Hochschule in Bonn hatte ich wie alle meine Korpsbrüder die damals unvermeidlichen Schulden, später als Majoratsherr trug ich freiwillig schwere, von meinem Vater überkommene Verpflichtungen, und heute ohne Katzdangen stehe ich natürlich nicht besser da. Nie aber drückten mich Geldsorgen mehr als damals, als der Bestand meines Siedlungswerkes von der Erhaltung meiner wirtschaftlichen Lage abhing.

Zum glücklichen Schaffen gehört ein unbeschwerter Sinn, den zu behalten mir in jenen Jahren auch aus einem anderen Grunde reichlich erschwert wurde: meine nächste Umgebung, Verwandte und Nachbarn, billigten keineswegs einmütig meine Siedlungsarbeit, nur wenige Gesinnungsfreunde verstanden mich recht, und Hilfe habe ich, um freier zu sein, niemals gesucht. Die meisten Menschen empfinden das Neue, Ungewohnte, so sehr es anfänglich ihre Anteilnahme erregt haben mag, auf die Dauer als störend und unbequem und haben daher gegen Neuerer ein gefühlsmäßiges Mißtrauen. Für unseren lässigen Verstand ist Ablehnung die einfachste Form, sich mit einer schwierigen Sache abzufinden. Die Siedlungsarbeit aber verlangte eine für viele unverständliche, den meisten lästige Umstellung auf verschiedenen Gebieten des Lebens. Auch konnte das erstrebte Ziel wohl angedeutet, vorläufig aber nicht klar gezeigt werden. Es ist dem Unkundigen nicht leicht, sich im Schutte einer Baustelle den heranwachsenden Dom vorzustellen.

Sogar meine engsten Mitarbeiter waren keineswegs alle vom Erfolge der Siedlung überzeugt. Je näher wir einer Sache stehen, um so eher entdecken wir ihre kleinen Mängel, um so schwerer ist es auch, sie trotzdem weitzügig zu beurteilen. Ich war auf gute Beamte um so mehr angewiesen, als ich vom Handwerk der Landwirtschaft nichts verstand. So sehr ich mich um die Gesamtleitung meiner Betriebe, um ihren inneren Aufbau und vor allem um die Auswahl der Beamten kümmerte, so wenig konnte ich in fachlichen Einzelheiten mitreden, da ich kaum die Getreidearten unterschied. Mir war Begabung für die Landwirtschaft versagt, und alle Bemühungen meines Vaters, wie auch später meine eigenen Versuche, mir Kenntnisse darin zu verschaffen, waren von vornherein vergeblich gewesen. Um so wichtiger war es für mich, geeignete "Generaldirektoren" (bei uns in besserem Deutsch "Bevollmächtigte" genannt) zu finden. Das aber war schwierig, weil von einer solchen Stellung zu viel verlangt wird, als daß man leichthin für sie geeignete Vertreter fände. Manche menschlich vorzüglichen alten Herren, gerade aus dem Adel, wurden ihrer Aufgabe fachlich nicht ganz gerecht, wie ein mir von allen Seiten gerühmter Landwirt, der viele und große Vollmachten gehabt hatte, aber doch, als ein künstliches Düngemittel zufällig nicht zu beschaffen war, voller Gottvertrauen einfach ein anderes mit gerade entgegengesetzter Wirkung ausstreuen ließ. Während ich sonst allmählich einen vorzüglichen Beamtenstand um mich gesammelt hatte und auch von meinen Kreismarschallbeamten aufs beste unterstützt wurde, hat mir in diesem für mich wichtigsten Punkte, "wo man freilich nur auf Auskünfte hin seine Wahl treffen mußte, eine glückliche Hand gefehlt, was täglichen Unmut und bleibende Sorge mit sich brachte. Was half der beste Aufbau ohne die geeignete Spitze? Dabei muß ich noch dem Himmel dankbar sein, daß mir einige der schlimmsten Prüfungen, die mir durch dringende Empfehlungen zugedacht waren, erspart geblieben sind. Oft, wenn ich heute frei und froh aufwache, denke ich beglückt, daß ich keine Bevollmächtigten mehr habe, und wenn mich etwas über den Verlust Katzdangens tröstet, so ist es die Gewißheit, auch keine Bevollmächtigten mehr zu haben. Um so dankbarer gedenke ich derer, die, vornehm und tüchtig wie Theodor von Schroeders und sein vorzüglicher Bruder Eduard 18), der Siedlung und mir treue Freunde waren.

Im allgemeinen hatten gerade die Berufslandwirte nur geringes Verständnis für die Siedlung, am wenigsten, was die Arbeiter betraf. Sie sahen zu sehr die Nachteile im Betriebe wie etwa den geldlichen Ausfall durch die Siedler, die der Arbeit anfänglich noch nicht gewachsen waren. Wenn die Neukömmlinge auch allmählich allen Anforderungen entsprachen, so blieben doch die Schwierigkeiten der Übergangszeit bestehen. Auch mußte man mit Deutschen rücksichtsvoller umgehen als mit den fugsamen und augendienerischen Letten. Vor allem aber fehlte vielen Beamten bei ihrer rein fachlichen Einstellung das Verständnis und die Freude an jener seelischen Arbeit, die bei der Siedlung von Mensch zu Mensch geleistet werden mußte. Der Standesdünkel der Beamten übertrifft bekanntlich meist den der Besitzer.

War es aber schon im Baltenlande schwer, geeignete landwirtschaftliche Mitarbeiter zu finden, so fuhr man mit Reichsdeutschen, mit denen ich es anfänglich versucht habe, noch schlechter. Sie waren damals im allgemeinen weniger völkisch gesinnt als wir und hatten begreiflich für unser Grenzerschicksal nicht gleich das nötige Verständnis. Vor allem aber waren sie durch die herrschende jüdisch-liberale Schulmeinung, daß der letzte Zweck aller Wirtschaft der höchste Ertrag sei, so voreingenommen, daß sie diesem alle anderen, uns Balten noch heiligen, gemeinnützigen, vaterländischen und gesittungsmäßigen Belange zu opfern bereit waren und es einem Besitzer eher verziehen, wenn er seine Einkünfte verschwendete, als wenn er sein Einkommen durch "unpraktische", sei es auch gemeinnützige Maßnahmen von vornherein verminderte. Für manche fachlichen Wissenschaftler war die "landwirtschaftliche Fabrik" ein Selbstzweck. Sie sollte sogar auf Kosten des geldlichen Endertrages bis zum letzten ausgebaut werden. Wer hiergegen menschlich-gemeinheitliche, völkische oder gar künstlerische Belange betonte, wurde nur zu leicht als rückständiger, "idealistischer Phantast" verachtet. Damit wurde der altvornehme Gutsherr, der im größeren Landbesitze weder ein geschäftliches Unternehmen noch eine Vermögensanlage, sondern eine Verpflichtung gesehen hatte, zum ausschließlichen Fachmann oder, wenn er vom Gewerbe nichts verstand, zum Rentner erniedrigt. Es gab damals Größen der wissenschaftlichen Landwirtschaft, die ohne Achtung vor alter Überlieferung und in Verkennung aller Hochziele, das Wirtschaftliche überschätzend, ihre Aufgabe darin sahen, jedes ihrer Fürsorge ausgelieferte Gut nur nach geldlichen oder nach fachlichen Gesichtspunkten neu zu ordnen. Es waren vielleicht gutgesinnte, gewiß gelehrte und tüchtige, aber doch kurzsichtige, wirtschaftlich verblendete Männer, die unbewußt den von den Juden angeführten Tanz um das goldene Kalb mitmachten. Wehe dem "altmodischen" Besitzer, der aus Geldnot in einer der Landwirtschaft abholden Zeit sein Gut solchen Händen anvertrauen mußte. Die größeren Einnahmen wurden mit der Aufgabe gar vieler gemeinnütziger Pflichten und Freuden erkauft, die bisher das Landleben geadelt und verschönt hatten. Es war, wie wenn eine unwissende, plumpe Hand einem Schmetterlinge den zarten Schmelz raubt. Ich habe im Reich erschütternde Fälle erlebt, in denen Gutsbesitzer, durch die Not gezwungen, sich der willfährigen Hilfe jener "praktischen und nüchternen" Landwirte auslieferten und damit den ihnen bisher geläufigen Sinn ihres Daseins verloren." Gewiß verlangte manches Alte unter dem Zwange der Zeit nach Neugestaltung, aber der Eifer jener Besserer ging bei ihrer verfehlten Weltauffassung oft weit darüber hinaus. Der eigentliche Besitzer wurde dabei mit sicherem Gefühl als etwas Fremdes, ja Feindliches empfunden und daher möglichst ausgeschaltet, was vor allem dort, wo Gesellschaften die Gutsverwaltung übernommen hatten, leicht durchführbar war. Am liebsten hätte man ihn ganz beseitigt, aber das hätte ja nichts genutzt, da dann ein anderer an seine Stelle gekommen wäre; aber ihn wie einen nicht ganz Zurechnungsfähigen unter eine gelinde Vormundschaft zu stellen, ihm einige unschuldig kindliche Vergnügungen zu lassen, im ganzen aber seine störende Tätigkeit auf Schloß und Park zu beschränken, das war wohl der unausgesprochene, aber zielbewußte Wunsch der meisten dieser Wirtschaftsberater. Daß ein Besitzer noch andere Aufgaben kennen, ja sie vielleicht besser erfüllen könnte als der Berufslandwirt, war ihnen unverständlich. Einst sah der hochstrebende "Idealist" mit Verachtung auf den erdgebundenen "Realisten" hinab, später war es — ebenso unberechtigt — umgekehrt. Der durch keinerlei Allgemeinbildung ausgeglichene Wirklichkeitsmensch ist in seinem Dünkel überzeugt, daß alles, was er nicht versteht, was er nicht schätzt, auch an sich keinen Wert hat. Einst war der Beruf des Gutsbesitzers ein edles Gewerk, es deckte sich keineswegs mit dem der neuzeitlichen Nurlandwirte. Im zurückgebliebenen Kurland gab es diese kaum — wir waren noch nicht so sehr auf die reine Nützlichkeit eingestellt —, im Reiche aber wurden sie wegen ihres hohen, fachlichen Könnens einseitig überschätzt. Ich habe sie meist schon gefühlsmäßig von vornherein abgelehnt, und dort, wo ich aus dem Reiche solche Beamte genommen hatte, bittere Erfahrungen gemacht.

Ein seinerzeit berühmter Hochschullehrer der Landwirtschaft, ein Vorkämpfer jener Richtung, dem ich einst meine Siedlung zeigte, stand fassungslos vor diesem "unpraktischen Unternehmen", das sich in der Tat nach barem Gelde nicht werten ließ. Er hielt mich wohl für einen Narren, was er aber zartfühlend erst nach seiner Heimkehr ins Reich meinen dortigen Verwandten anvertraute (Anm. 10).

Natürlich soll das Verdienst jener Herren um die betriebliche Vervollkommnung und die an sich so notwendige landwirtschaftliche Ertragssteigerung nicht geschmälert, sondern nur ihre einseitige Betonung des rein Wirtschaftlichen zurückgewiesen werden. Heute hat sich, vorzüglich durch die nationalsozialistischen Forderungen, ein Ausgleich zwischen beiden Richtungen angebahnt. Wir sehen die Landwirtschaft, durch Lehre und Leben geleitet, ihre betrieblichen Hilfsmittel und damit auch ihre Erträge aufs glücklichste für das Volkswohl steigern, ohne daß dabei die anderen Aufgaben des Gutsbesitzers vergessen werden.

So stießen meine "idealistischen" Bestrebungen selbst im damaligen Kurland öfter auf jenen Widerspruch, zu dem sich vor allem liebestrenge Verwandte berechtigt, ja verpflichtet glauben, damals in der nicht immer aufrichtigen, jedenfals nicht ganz uneigennützigen Besorgnis, die Siedlung könne mich geschäftlich zugrunde richten. Ich aber war fest entschlossen, der teilnahmvollen Mitwelt diese Genugtuung nicht zu gönnen. Je mehr ich auf Unverständnis und Widerspruch stieß, um so bestimmter trieb ich, zuletzt beinahe zwangsläufig, das begonnene Werk weiter, das zu vollenden mir nun zu einer Ehrensache geworden war. Noch mehr, ich fand in meiner Arbeit ein bisher nie gekanntes Glück, die Entfaltung meines inneren, eigensten Lebens. Um mich wirklich kennen zu lernen, müsse man, so sagte ich nieinen Freunden, nach Katzdangen kommen. Und heute fühle ich mich verarmt, nicht weil mir der goldene Rahmen von Macht und Besitz geraubt ist, sondern weil mir die liebgewordene Arbeit an meinen und mit meinen deutschen Volksgenossen fehlt. Ihr lebte ich ganz, und darum hatte sie trotz allen Widerständen Erfolg.

Erfolge

Damals wuchs unter meinen Händen und bald schon aus eigener Kraft um Katzdangen ein deutsches Bauerntum heran, das stark genug war, alle örtlichen Schwierigkeiten von sich aus zu meistern. Ich konnte vom Katzdanger Schlosse nach einigen Richtungen bereits drei bis vier Meilen fast nur durch deutsches Gebiet fahren; überall hörte man deutsch sprechen. Es war unter allen Siedlungen Kurlands die größte zusammenhängende Bodenfläche und die größte einheitlich deutsche Bevölkerung, im ganzen zwar nur drei- bis viertausend Seelen, aber die Geschlossenheit meiner Schöpfung gab dieser Zahl ein besonderes Gewicht. Es bildeten sich schon feste Gemeinden mit eigenen Vorstehern und Richtern, die, eben weil sie von allen Siedlern anerkannt wurden, diesen, wenn auch nicht rechtlich, so doch nicht weniger maßgebend die Beamten der großen lettischen Obergemeinde ersetzten. Diese Siedlungen, die ihre eigenen Verwaltungen, Schulen und Gottesdienste hatten, brauchten kaum noch meiner Hilfe; sie waren gleichsam zu kleinen Bäumen herangewachsen, die des Gärtners pflegende und schützende Hand nicht mehr benötigten.

Selbstverständlich blieb es trotzdem nicht nur wünschenswert, sondern mir auch ein Herzensbedürfnis, weiterhin für die Gesamtheit wie für die Einzelnen zu sorgen, herzlicher, als ich es je für die Letten gekonnt hatte. Ich beriet sie auch ferner in sämtlichen Angelegenheiten, ich sorgte für die Kranken, brachte den Kindern einen Weihnachtsbaum und suchte sie alle wirtschaftlich und geistig zu fördern.

Es war eine wunderbare Freude zu sehen, wie schnell sie vorwärts kamen, wie der Wohlstand überall stieg und wie die Gehöfte, man konnte sagen, mit jedem Monate sauberer und gepflegter ausschauten.

Vor allem war Post-Drogen so abgerundet, daß es wie ein kleiner, in sich fest gegliederter Staat dastand. Wiewohl die Ansiedler von Amts wegen zu einer viele Orte zusammenfassenden lettischen Gesamtgemeinde gehörten, hatten sie doch ihren größten und tüchtigsten Bauern, Georg Baber, zu ihrem eigenen Gemeindevorsteher gewählt, dem sie sich bedingungslos fügten, und der daher eine Reihe nützlicher Einzelbestimmungen für den rein deutschen Ort treffen konnte. Ebenso hatten sie sich einen eigenen Richter gewählt, der ihre Streitigkeiten schlichtete, denn sie dachten nicht daran, ihre Angelegenheiten jemals vor die lettischen oder russischen Behörden zu bringen. Ein von der Gemeinde bestimmter Vertrauensmann betreute auch die Schule. Sie befand sich in der Mitte der Siedlung im alten Wohnhause, das auch noch den schön hergerichteten Betsaal und das Versammlungszimmer enthielt. Dort wohnte auch der Lehrer, der den Obst- und Gemüsegarten nutzte und den kleinen Park betreute, und ebenfalls der Pächter der geringen von mir zurückbehaltenen Ackerfläche. In allen anderen ringsum liegenden Gebäuden lebten die einzelnen neuen Besitzer. Sie hatten ihre Häuser aufs schönste ausgebaut und bereits Nebengebäude hinzuerrichtet, die nach der Feldseite hinaus lagen. Dort wuchsen auch neue Gärten heran, die sie ebenso wie ihre Äcker nach ihrer Art, die für sie die beste war, eingerichtet hatten; auf den Wiesen dahinter weidete schönes Vieh. So war Post-Drogen ein Vorbild, und seine schließlich von mir ganz unabhängigen Siedler standen mir menschlich am nächsten.

Auch die bisher lettischen Bauernhöfe, die das Gut in weitem Kreise umgaben, kamen allmählich in deutsche Hände. Als ich das letzte Mal vor dem Weltkriege zu einem Gottesdienste in Post-Drogen war, brachten mir die Siedler zwei neue Ankömmlinge aus Wolhynien und berichteten strahlend, diese hätten soeben zwei lettische Bauernhöfe in der Nähe gekauft. Das war ganz ohne mein Zutun geschehen, und ich hatte den starken und frohen Eindruck, daß diese Siedlung nun auch ohne meine Hilfe von sich aus weiter wachsen werde.

Geburtenzuwachs

Die Zahl der Siedler stieg unaufhaltsam, weil viele nun auch schon ohne mein Zutun nachwanderten, noch mehr aber durch ihren großen Kinderreichtum. Die sehr umfangreiche Kirchengemeinde Neuhausen, in der acht meiner Güter eingepfarrt waren, zählte im ganzen vierzehntausend Seelen, davon waren nur zweitausend Siedler, und doch blieben, wie uns der Pfarrer zu Silvester 1913 in seinem Bericht über die Bevölkerungsbewegung der Gemeinde verlas, die deutschen Geburten des ausgehenden Jahres nur um eine hinter den lettischen zurück. Ich konnte mir also ausrechnen, daß bereits im Laufe eines Menschenalters in dieser Gemeinde der Anteil der Deutschen dem der Letten zumindest die Waage halten und ihn später schnell übertreffen werde. Als ich einmal vor einem Siedler die große Zahl seiner mich umspielenden elf Kinder hervorhob, sagte er nur: "Oh, meine verstorbene erste Frau war noch viel braver, von der habe ich sechzehn." Als ich dies einer benachbarten Siedlerfrau wiederholte, meinte sie: "Das ist doch gar nichts Besonderes, wir waren dreißig Geschwister von einer Mutter." Man rechnete einst in Deutschland auf 1000 Menschen 32 Geburten jährlich, diese Zahl sank auf 28, in Frankreich betrug sie 18, bei den Letten 17, bei meinen Siedlern aber 63. Denn dank ihrer altfrommen Gesinnung herrschte bei den Siedlern noch die väterliche Gewalt, und so galt ihnen jedes neugeborene Kind als eine erwünschte, zukünftige Arbeitskraft für die Familiengemeinschaft. Oft hörte ich sie sagen: Dieser Mann ist wirtschaftlich schwach, er hat wohl Vermögen, aber nur wenig Kinder, er kann nichts Rechtes unternehmen, jener aber hat freilich kein Geld, dafür aber viele Kinder, die ihn schon hochbringen werden (Anm. 11).

Gesundheitsfürsorge

Die schlechten gesundheitlichen Zustände in Wolhynien, wo viele Kinder ansteckenden Krankheiten erlagen, hatten der Vermehrung entgegen gewirkt. Diese Hemmung fiel in Kurland fort. In Katzdangen waren ja Arzt, Heilmittel und Krankenhaus unentgeltlich und leicht erreichbar, und eine von mir angestellte Schwester besuchte die Kranken auch in ihren Wohnungen, während sich in Wolhynien außer der unwissenden Familie niemand um sie gekümmert hatte. Dazu kam, daß diese noch wenig gesitteten, doch äußerst gesittungsfähigen Menschen die gesundheitlichen Erfordernisse bald verstanden und sich ihnen dann gern und erfolgreich fügten. Als sie ins Land kamen, litten viele Kinder an der ägyptischen Augenkrankheit. Ich war ganz verzweifelt, da es kaum möglich schien, diesem so ansteckenden und gefährlichen Übel wirksam zu begegnen. Nach einigen Jahren aber war es, ohne daß wir viel dagegen getan hatten, verschwunden und nur noch bei Neukömmlingen zu finden. Ich erinnere mich eines kleinen Mädchens, das einen Weichselzopf hatte. Die unvernünftige Mutter sah dies als eine unabwendbare Heimsuchung an und wollte auf keinen Rat hören. Ich nahm bei einem Besuche das Kindchen auf meinen Schoß und schnitt mit einer hinterlistig mitgebrachten Schere blitzschnell den Weichselzopf ab. Die erschrockenen Frauen sahen mit offenen Augen und Mündern zu, wagten aber gegen mich keinen Widerspruch und waren freudig erstaunt, daß das Übel so schnell beseitigt war.

Eines Sommers brach eine Fieberseuche aus, gerade als der Arzt auf Urlaub gegangen war. In zwei Knechtshöfen lagen alle krank. Weil die Leute nicht davon abzubringen waren, ihren bettlägerigen Kindern und Angehörigen immer wieder ungesundes Essen zu geben und die Kranken wiederum eine mir allerdings sehr verständliche, aber immerhin bedauerliche Abneigung gegen Rizinusöl bekundeten, sah ich ein allgemeines Sterben voraus, wenn nicht schnell eingegriffen würde. Ich schuf das eben wieder hergestellte untere Geschoß des Katzdanger Schlosses zu Krankensälen um und ließ alle Leidenden dorthin zusammenbringen, berief drahtlich eine zweite Krankenschwester und sperrte das Schloß möglichst von der Außenwelt ab, aus der nur die Baronin Medem und ich selber die Kranken mehrmals täglich besuchen kamen. Die besorgten Anverwandten durften sich nur den offenen Fenstern nähern, wobei Versuche, den "armen, hungernden" Kranken allerlei Lebensmittel durchs Fenster zuzuschieben, nicht ausblieben, aber immer noch rechtzeitig vereitelt wurden. Um dem "Rizihntrank", wie sie ihn nannten, seine Schrecken zu nehmen, genoß ich selber in Gegenwart der Kranken feierlich einen vollen Löffel dieses grausigen Öls, wiewohl ich, weiß Gott, seiner keineswegs bedurfte. Als die eigenwillige, hochmütige Gattin eines lettischen Oberverwalters auch erkrankte und, weil sie es so für vornehmer hielt, unter allen Umständen in ihrer Wohnung zu bleiben beschlossen hatte, wurde sie auf meinen Befehl gewaltsam in ihrem Bette hoch auf den Schultern von vier kräftigen Männern trotz ihren lauten Verwahrungen ebenfalls ins Schloß getragen. Und siehe da, nicht einer der Kranken ist gestorben.

Wesensart der Siedler

Wie kindlich waren doch die Siedler! Sie waren als Greise noch Kinder. So hatten die Kolonisten auch alle Unarten der Kinder, aber ihre ungeschickten Vergehen waren dafür auch bald zu durchschauen. Sie waren in ihrer anfänglichen Armut und Unbildung und unter den Nachwirkungen ihrer bisherigen russischen Umgebung leichter verführbar und verstießen anfangs vielleicht eher gegen die bürgerlichen Gesetze als die Letten, auch weil sie mehr Schneid, selbst zum Bösen, besaßen als jene, die oft nur aus Berechnung und Ängstlichkeit nicht vom Pfade der Tugend abwichen. Auch bei den Letten gab es nicht selten Ehebruch, aber ich habe nie von einer Entführung gehört, die ich bei den Siedlern als Trauerspiel wie als Posse mehrfach erlebt habe. So konnte man eigentlich schon aus der Art des Vergehens Schlüsse auf den Täter ziehen. Ein frecher Einbruch, eine faustdicke Lüge, eine schwere Körperverletzung bei einer Prügelei waren die Vergehen, die man von vornherein eher den Siedlern als den Letten zutrauen konnte. Aber solche Untaten blieben auch nicht lange verborgen. Sie waren zumeist töricht angelegt, man fand auch unter den Verwandten und Freunden des Missetäters ehrliche Zeugen, und er selbst legte zum Schluß ein offenes Geständnis ab, während die Unehrlichkeit, Bestechlichkeit und Hehlerei der Letten und ihre im Dunkeln schleichenden Verleumdungen oft gar nicht zu fassen waren. Die Heimlichkeit und innere Unwahrhaftigkeit der Letten erschwerten jede Untersuchung, es gab keine zuverlässigen Zeugen und niemals ein offenes Bekenntnis des Übeltäters. Nur selten wußte man recht, wer der eigentlich Schuldige war. Kaum jemals kam die Wahrheit ungetrübt ans Licht. Über den Wesenskern eines Kolonisten konnte man schon nach einigen Wochen völlige Klarheit gewinnen, über den eines Letten eigentlich nie. Da gab es Fälle, wo man lebenslängliche untreue erst nach dem Tode des Übeltäters aufdeckte, und wiederum andere, wo man nichts Handgreifliches wußte und doch den quälenden Zweifel, den bösen Verdacht nie los wurde. Die Schwäche, Lauheit und Halbheit der Letten, diese uns Deutschen meist fremden Wesenszüge, machten einen jeden von ihnen für uns unfaßbar 19). Im Gegensatz zu ihnen war es leicht, die deutschen Neukömmlinge zu erproben und von schlechten Mitläufern zu säubern. Ihre Sittlichkeit hob sich auch bald unter dem Einfluß eines auskömmlicheren und geordneteren Lebens. Ihr Verhalten, vor allem aber das ihrer in unseren Schulen erzogenen Kinder wurde allmählich musterhaft, so daß ihre Offenheit, ihre Zuverlässigkeit und Treue, aber auch ihr Ehrgefühl, ihre Tapferkeit und — ihre Dankbarkeit uns alle nach unseren Erfahrungen mit den Letten wie ein Wunder anmuteten.

Einen kleinen, aber für die verschiedene Artung der beiden Völker bezeichnenden Fall erlebte ich gleich anfangs auf einem abgelegenen Gute, dessen Forst von zwei Buschwächtern, einem schon lange in meinen Diensten stehenden Letten und einem zugezogenen Deutschen betreut wurde. Der Deutsche hatte von mir das Geld zum Ankauf einer Kuh erhalten und sich nach einiger Zeit noch einen weiteren Vorschuß zum Erwerb einer zweiten erbeten. In Wirklichkeit aber verwandte er die zweite Anleihe zum Ankauf eines Schallkasten, wie er treffend das " Grammophon" nannte. Als sein lettischer Amtsbruder mir dies schleunigst hinterbrachte, verkaufte er, um sich allen mit Recht vorausgesehenen Vorwürfen zu entziehen, schnell noch die Kuh und zog mit dem Gelde und seinem Schallkasten los. Es war ein klarer Fall; ich hatte dabei an 300 Rubel verloren. Seine lettischen Berufsgenossen, die Letten der Nachbarschaft, aber auch einige der Siedlung abholde Deutsche frohlockten über diese nicht abzuleugnende Unzuverlässigkeit eines Kolonisten. Sein ehrlicher, nun von allen jenen als Gegenbeispiel gerühmter lettischer Amtsgenosse trug im Hinblick auf seine erwiesene Vorzüglichkeit den Kopf mehrere Zoll höher — bis eines Tages durch einen bedauerlichen Zufall herauskam, daß er mich durch fortgesetzten Betrug seit Jahrzehnten um Tausende von Rubeln geschädigt hatte, was einen furchtbaren Rechtshandel mit den üblichen Verleumdungen, zweifelhaften Zeugen und falschen Aussagen zur Folge hatte. Nach Jahresfrist aber erschien der entflohene Kolonist unerwartet bei mir, brachte die 300 Rubel wieder und bat um Verzeihung.

Ein anderer Ankömmling erstand von mir einen schönen Bauernhof. Er fuhr nach Wolhynien zurück, um das Kaufgeld zu holen, und kam nach einiger Zeit, nunmehr mit seiner Familie in heller Verzweiflung wieder: ihm sei auf der Bahn sein ganzes Vermögen gestohlen worden. Da solche Fälle öfter vorkamen, glaubte ich ihm und stundete ihm, da er mir leid tat, nicht nur jegliche Anzahlung, sondern lieh ihm auch noch das Geld zur Einrichtung seiner Wirtschaft. Allmählich sickerten aber Gerüchte durch, daß er gar nicht bestohlen sein könne, weil er überhaupt kein Vermögen besessen habe. Ich sagte ihm das auf den Kopf zu, und obwohl er es, da ich keine Beweise hatte, sehr gut hätte ableugnen können, gestand er es auch sofort ein; es sei sein Lebenswunsch gewesen, einmal einen eigenen Hof zu besitzen, er sehe sein Unrecht ein, hoffe aber, daß er das Geld herausarbeiten werde. Ich ließ ihm den Hof, und er hat seine Schuld wirklich allmählich abgezahlt und ist schließlich ein wohlhabender, allgeachteter Bauer geworden.

Bei den Siedlern herrschte trotz einzelner Betrugsfälle eben doch eine größere Offenheit. Sie hielten auch nicht gegen den Gutsherrn so fest zusammen wie die Letten; sie haben, im Gegenteil, immer zu mir das Vertrauen gehabt, daß ich ihr Bestes wolle, und daher auch öfter gegen ihre eigenen Verwandten und Freunde meine Belange geschützt. Sie waren eben in allem so anders als die Letten. Nie hätte ein Lette bei Ankauf eines Hofes auf landschaftliche Schönheit und weiten Ausblick geachtet, während derartige Reize für die Siedler wohl nicht entscheidend waren, aber immerhin — selbst geldlich — gewertet wurden.

Ein nettes Beispiel für die Kindlichkeit der Siedler gab auch folgender Vorfall. Wie die ganze Katzdanger Landwirtschaft, so war auch mein Haushalt mit den neuen Ankömmlingen besetzt worden, ebenfalls die Küche, die von einer alten, deutschen "Wirtin" regiert wurde. Dieses Amt war in Kurland schon immer von Deutschen verwaltet worden; es galt als selbstverständlich, daß die Leitung des Hauswesens in deutschen Händen lag. Diese "Wirtinnen" waren zumeist vorzügliche deutsche Menschen, oft wunderlich, aber stets treu und fast immer tüchtig, so daß ein Junggeselle, wie ich, es in dieser Hinsicht in Kurland leicht hatte. Aber ebenso wie deutsche Oberverwalter fanden es auch die Herrscherinnen der Küche oft bequemer, mit gefügigen Lettinnen zu arbeiten als mit den noch wenig ausgebildeten, alle guten, aber auch manche schlechten Eigenschaften eines Kindes in sich vereinenden Kolonistinnen. Meine Wirtin, Fräulein Valentin, hatte sich schließlich grollend meinem Wunsche gefügt, deutsche Mägde genommen und allmählich auch deren Vorzüge kennengelernt. War nun im Sommer die Baronin Medem in Katzdangen, so vertrat diese zu ihrer und meiner Freude in schönster Weise die Hausfrau, und es war bei ihrer frischen, anteilvollen Art natürlich, daß sich die Dienerschaft nicht nur ihren Anordnungen, sondern auch ihrem geistigen und seelischen Einfluß gerne fügte.

Sie kam eines Tages mit einer Sorge zu mir und erbat meine Hilfe. Der Küchenmagd Lisa waren drei Rubel entwendet worden. An der Tatsache ließ sich nicht zweifeln. Nun aber beschuldigten sich die einzelnen Mägde untereinander, es hatten sich Parteien gebildet, keine traute der anderen mehr; kurz und gut, es erschien notwendig, um des allgemeinen Friedens willen etwas in der Sache zu unternehmen. Ich bestellte die weibliche Dienerschaft auf den folgenden Tag um 8 Uhr abends ins Kavalierhaus, wo ich seit dem Brande wohnte, während sich die Küche bereits wieder im benachbarten, neu erstehenden Schlosse befand. Ich hatte durch die Baronin Medem verbreiten lassen, daß ich ein unfehlbares Mittel wisse, die Schuldige herauszufinden; es sei daher besser, wenn sich diese gleich melde, ihr Vergehen, das ich ihr nicht nachtragen wolle, eingestehe und somit den unangenehmen Vorfall aus der Welt schaffe. Das war aber nicht geschehen. Es war Winter und also schon finster, als die Mägde in sichtlicher Erregung das unbeleuchtete Kavalierhaus betraten. Die eingeschüchterten Mädchen durchschritten die düstere Eingangshalle und kamen über die ebenfalls dunkle Treppe in die oberen Zimmer, wo sie im Hintergrunde helles Licht erblickten. Dort saß die Baronin Medem unter einem flammenden Kronleuchter an der Breitseite eines länglichrunden Tisches. In seiner Mitte stand ein ebenfalls längrunder, silbergefaßter Untersatz aus einem alten Tafelschmuck, dessen Platte, ein liegender Spiegel, das Licht der Kerzen blendend widerstrahlte. Vor Marie Medem lag ein schwerer schweinslederner Band, ein ehrwürdiges Nachschlagewerk der Pflanzenkunde, das sich durch Alter und Umfang vorzüglich zum Ausstattungsstück einer Beschwörung zu eignen schien. Als sich nun die Mägde im Kreise um den Tisch aufgestellt hatten, sagte Marie Medem, sie sollten alle in den Spiegel sehen und aufmerksam zuhören, was sie ihnen vorlesen würde. Sie hatte das Buch an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen und trug nun mit eintöniger Stimme ein lateinisches Verzeichnis daraus vor, das sich augenscheinlich auf Rosen bezog: Rosa, rogusa, rubiginosa, pimpinellifolia und so fort. Da Marie Medem ebensowenig Latein verstand wie die Mägde, so waren ihr die Ausdrücke im einzelnen auch nicht klar, wenn sie auch immerhin verstand, daß es sich um Rosengattungen handelte. Auf die Mägde aber wirkte es wie eine Beschwörungsformel. Sie wurden immer bleicher, schauten scheu in den Spiegel und wagten doch nicht, den Blick wegzuwenden, und als Marie Medem beim Worte Pimpinellifolia zufällig ihre Stimme erhob, sah ich, wie es sie alle durchschauerte. Darauf hieß die Baronin Medem sie in den nebenliegenden, dunklen Saal treten, wo sie ihre Hände auf die Marmorplatte des Mitteltisches legen sollten; hierbei werde es sich unfehlbar zeigen, wer schuldig sei und wer unschuldig. Die verschüchterten Mägde schoben sich nun einzeln an dem unheimlichen Tische vorbei und gelangten darauf in mein Schreibzimmer, das hell erleuchtet war. Hier forderte ich sie auf, ihre Hände hochzuheben und mir die Handflächen zu zeigen. Darauf mußten sie ihre Hände in ein altes silbernes Waschbecken tauchen und wieder abtrocknen. Dann trat ich auf sie zu und bezeichnete mit schwankenloser Sicherheit eine als die Schuldige. Diese brach in Tränen aus und gestand sofort. Ich verlangte nun, daß sie die drei Rubel wiedergäbe und Lisa um Verzeihung bäte, dann würden wir gerne den Mantel der Liebe über die ganze Begebenheit decken. Und so geschah es auch. — Ich hatte den Marmortisch mit Ruß geschwärzt, was in dem dunklen Zimmer ja nicht zu sehen war, und damit gerechnet, daß die wirklich Schuldige ihres schlechten Gewissens wegen die Hände fest darauf zu legen nicht wagen, also als einzige reine Finger behalten werde, worin ich mich ja auch nicht getäuscht hatte. Da alle ihre Hände unmittelbar darauf gewaschen hatten, kamen sie auch später nicht zur Erkenntnis des "Wunders". Nachdem sie gegangen waren, entfernte ich schnell die Spuren unseres Untersuchungsverfahrens, und es galt seitdem als ausgemacht, daß "der Baron über geheime Kräfte" verfüge, "Schuldige festzustellen". Später haben die Mägde der Baronin Medem anvertraut, wie furchtbar der unheimliche Vorgang auf sie gewirkt habe. Sie hätten jeden Augenblick erwartet, im Spiegel den Gottseibeiuns selber erscheinen zu sehen.

So wuchs ich durch große und kleine Schicksale täglich mehr mit meinen Siedlern zusammen; nie bestanden innerlich empfundene Standesunterschiede, die sich eher bei verschiedener Rasse aus Blutsfremdheit ergeben. Täglich lernte ich meine Schützlinge besser kennen, auch ihre Sprache, die manche altmodische Wendung beibehalten hatte. Wenn sie etwa mich einen "gemeinen, niederträchtigen" Menschen nannten, so wollten sie damit sagen, daß ich mich mit ihnen gemein machte und nicht hochmütig sei. Besonders nahe fühlte ich mich ihnen, wenn sie auf das zu sprechen kamen, was ich Ewigkeitsfragen nennen möchte. Wenn ich in klarer, nordischer Frostnacht mit einem von ihnen aus einer Versammlung heimfuhr, kam es wohl vor, daß er mich nach den Sternen fragte, ob sie bewohnt seien, nach der Unendlichkeit des Weltalls, auch nach Gott, Fragen, die ich aus dem Munde der allzudiesseitigen Letten nie vernommen habe. Da wurde ich mir der Seelenverwandtschaft aller Deutschen so recht bewußt: wie eng deutscher Hochglaube und faustisches Fühlen unser ganzes Volk vom höchsten bis zum geringsten Manne verbindet. Die Kolonisten waren noch durch keine Halbbildung ihrem deutschen Wesen entfremdet.

Dies zeigte sich auch in ihrem noch unverdorbenen Schönheitssinn. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, jeder Siedlerfamilie bei ihrer Ankunft ein kleines Bild zum Schmucke ihrer Wohnung zu schenken. Der "Kunstwart" gab damals "Meisterbilder" heraus. Ich hatte deren mehrere Hundert gekauft, sie in schlichte, kunstgerechte Eichenrahmen gefaßt und ließ nun die Leute selber der Reihe nach die Wahl treffen. Da war es denn bemerkenswert, daß die Siedler vorweg die alten deutschen Meister, Dürer, noch lieber Grünewald wählten. Waren diese vergeben, so nahmen die nächsten auch gerne die Vorraffaeliten, dann erst Raffael und zuletzt Bilder der heutigen Zeit. Es war selbstverständlich, daß ich sie mit den "Überneuzeitlichen" verschonte, die sich ja auch glücklicherweise in der Kunstwart-Sammlung nicht fanden. Bei diesen einfachen Menschen war das angeborene, sichere Empfinden noch nicht durch kitschige Sachen in minderwertigen Schaufenstern ertötet worden.

Gottesdienst 

Vor allem hatte Kurland das Herz der Kolonisten dadurch gewonnen, daß sie dort Kirche und Schule, die beiden Dinge, nach denen sie immer wieder zuerst fragten, in schönster Weise gefunden hatten. Es war für sie eine freudige Überraschung gewesen, in ein rein lutherisches Land zu kommen, unsere alten, geräumigen Kirchen nun auch ihr eigen nennen zu dürfen und von deutschen Pfarrern liebevoll betreut zu werden. In Wolhynien hatte es wohl sehr viele russische und katholische Kirchen gegeben, aber nur wenige evangelische. Viele Gemeinden sahen dort ihren Pfarrer, der ein riesiges Gebiet mit vielleicht 50000 Seelen zu bereisen hatte, nur selten. Freilich war auch in Kurland nicht jeden Sonntag deutscher Gottesdienst; denn, da die lettische Gemeinde meist sehr groß, die Zahl der Deutschen vor der Ankunft der Siedler sehr klein war, wurde wohl an allen Sonntagen in den Kirchen lettischer, aber nur einmal im Monat nach dem lettischen auch deutscher Gottesdienst gehalten. Ihn an den anderen Sonntagen wie in Wolhynien, so nun auch in Kurland den Siedlern zu ersetzen, war ja die Aufgabe der mitgekommenen Küsterlehrer. 

Da man in Kurland nur die gebildeten Schichten und höchstens noch einige Handwerker in der Kirche sah, machte es auf mich großen Eindruck, nun mit deutschen Bauern der Andacht beizuwohnen, und ich beteiligte mich jeden Sonntag an ihrem Gottesdienst. Aber es störte mich bald, daß die Küsterlehrer schlecht vortrugen. Die Siedler hörten nicht aufmerksam zu und schlummerten dabei auch wohl zuweilen ein. Da sagte ich mir, daß ich es vielleicht besser machen würde, und begann nun selber die Andacht zu leiten. Zuerst las ich die von einem der Lehrer mitgebrachten Stöckerschen Predigten vor. Diese waren aber sehr lang, nicht immer leicht verständlich und nach meiner Auffassung in ihrer Buchstabenhörigkeit zu starr. Ich versuchte es darauf mit den "Dorfpredigten" von Frenssen. Diese waren wiederum für die Neukömmlinge entschieden zu freigeistig. Sätze wie "Wenn dieser Brief wirklich vom Apostel Paulus stammt, was jetzt bestritten wird", konnte ich den strenggläubigen Siedlern schwerlich vortragen, und solche Stellen rechtzeitig auszulassen, ist bei schnellerem Vorlesen nicht leicht. Ich beschloß daher, selber Predigten zu verfassen und — es ging erstaunlich gut. Die Siedler kamen sämtlich zu den Gottesdiensten, sie hörten aufmerksam zu, keiner schlief mehr ein, bald wurde der bisherige Raum im Katzdanger Schlosse zu eng, und auch von meinen anderen Siedlergemeinden kamen Bitten an mich, gleichfalls bei ihnen Gottesdienst zu halten. Ich habe dann jeden Sonntag, an dem kein deutscher Kirchgang stattfand, in den verschiedensten Orten, oft an einer Stelle des Morgens, an einer anderen des Nachmittags, meist in den Sälen meiner verschiedenen Gutshäuser die Andacht geleitet. 

Als ich eines Tages in Puhnen, dessen Wohnhaus nach seiner Zerstörung im lettischen Aufstande von mir wieder aufgebaut war, den Gottesdienst beginnen wollte, zu dem sich im sehr geräumigen Saale mehr Menschen als gewöhnlich eingefunden hatten, fragte ich die Dame, die auf der Hausorgel den Gesang zu begleiten pflegte, welches Lied wir singen sollten. Sie entgegnete etwas erstaunt: "Nun, doch eins zum Totenfest!" Da ich nicht sehr kirchlich bin, hatte ich nicht daran gedacht, daß es Totensonntag war, und mir eine Rede zurecht gelegt, die nun kaum paßte. Ich mußte also unvorbereitet sprechen, und siehe da, auch dies gelang über Erwarten. 

Ich habe von da an immer frei, der Eingebung der Stunde folgend, gesprochen, zuweilen zweimal an einem Tage. Als der kurländische Generalsuperintendent Bernewitz — später lutherischer Bischof in Braunschweig —, in einer meiner Gemeinden einen neuen Pfarrer einführte, sagte er nachher bei einer Tischrede, ich hätte mehr gepredigt als mancher junge Geistliche. Das mochte wirklich zutreffen. Ich habe einmal zur Weihnachtszeit in vierzehn Tagen zehnmal gepredigt, denn auch die Siedler meiner Nachbarn baten mich, ihnen zuweilen Gottesdienst zu halten. Sie meinten, sie verständen "den Baron besser als den Pastor". Nun sprach der Pfarrer zwar durchaus verständlich, eigentlich wie für Kinder, aber er kannte die Neukömmlinge natürlich weniger als ich und konnte daher schwerer ihre Art zu denken und zu fühlen treffen. 

Vor allem lag dies Besserverstehen aber wohl daran, daß ich ganz "undogmatisch" und sehr "unorthodox" predigte. Ich konnte diesen schlichten Menschen nichts anderes sagen, als was ich selber glaubte: Wir haben einen guten Vater im Himmel. Ihr könnt ihn in der Natur erkennen. Ihr hört von ihm aus den heiligen Schriften, aber vor allem fühlt ihr ihn im eigenen Herzen. Hierauf allein kommt es an. Von allen Wundern ist dies das größte, daß man Gott im Herzen fühlen, mit ihm reden, zu ihm beten kann. Dies ist das einzige Wunder, das uns niemand bestreiten kann, das große "Geheimnis", von dem Christus lehrte, jenes "Reich Gottes inwendig in uns", von dem alle seine Gleichnisse handeln (Anm. 12). Ihr mögt Gott um äußere Dinge bitten, die er euch vielleicht geben, vielleicht versagen wird; wenn ihr ihn aber um diesen seinen Frieden bittet, wird er ihn Euch nie versagen, werdet Ihr in ihm alles in Einem, das einzig wahre Glück erhalten. Wenn Ihr unrecht getan habt, so reicht Euer Herz zu Gott hinauf, daß er es reinige und heile und ihm himmlische Kräfte fürs irdische Leben verleihe. Vor allem aber wird er Euch die Liebe schenken, mit der Ihr nun seinetwegen auch Eure Nächsten umfaßt, so daß Ihr gute Werke nicht um des Verdienstes halber, sondern aus freier, glücklicher Liebe verrichten werdet, weil Euer Wesen sich wunderbar wandeln und dann von selber beseligende Früchte tragen wird. Desgleichen werdet Ihr auch Euren Feinden verzeihen, nicht nur, weil es so geboten ist, sondern weil Gott den Haß aus Euren Herzen getilgt haben wird. Wenn Ihr Euch willig in dieses das ganze All bewegende Gesetz einfügt, so werdet Ihr schon auf Erden in Eurem Herzen das Himmelreich finden und nach Eurem Tode als Träger solcher Liebe zu Gott eingehen. Ein jeder von uns ist ein Sohn der Mutter Erde und Gottes. "Vom Vater in Ewigkeit gezeugt" trägt er in sich einen Hauch des göttlichen Schöpfers, die Gottgesandten vielleicht mehr als wir andere, aber in jedem wirkt dieser heilige Geist und will ihn, wie selbst noch den Schacher am Kreuze, zum Himmel heben; denn Göttliches muß zu Gott zurück. Selig, wer sich ihm überläßt! Dies ist alles, was ich glaube, und was gäbe es Schöneres zu glauben! Liegt darin nicht alles, was der Mensch, der Weise wie der Ungelehrte, der Große wie der Kleine braucht? Für diesen Glauben an die Gemeinschaft mit Gott ließe ich mein Leben; denn ohne ihn wäre mein Dasein schal. Nun aber finden wir beglückt, daß dies gerade das ist, was Christus verkündet hat! Die "frohe Botschaft" vom guten Vater im Himmel und seinem Reiche der Liebe. Christi Lehre ist ebenso beseligend für seine schlichten Fischer gewesen, wie sie es noch heute für die größten Denker ist. Ein jedes Kind kann und soll sie verstehen, mag sie auch für manche Schriftgelehrte zu "unwissenschaftlich", "zu einfach" und "zu klar" sein (Anm. 13). Sie wendet sich an das Herz, nicht an den Verstand. Nicht das Fürwahrhalten irgendwelcher überlieferter Tatsachen — das schiene mir heidnisch —, sondern allein die Hingabe an dieses einzige selbsterlebte Wunder, dieses unmittelbare Verhältnis zu Gott ist jener Glaube, der nach Luther selig macht, auch schon hier auf Erden. 

So ungefähr redete ich damals zu den einfachen Siedlern und wurde gerne und gut verstanden. Ich führe dies an, weil man heute von den "Bekenntnistreuen" so oft hört, gerade das einfache Volk brauche den Offenbarungsglauben. Mir aber erschien schon damals meine Auffassung als die von Christus gelehrte Gottgläubigkeit und darum als eigentlich christlich im Gegensatz zu heidnischen Rückfällen der späteren Kirche (Anm. 14).

Als ich unseren Generalsuperintendenten Bernewitz einmal fragte, ob es ihm auch recht sei, daß ich so viel Gottesdienst hielte, da er doch meine freie und lehrsatzlose Einstellung kenne, erwiderte er schlicht: "Wir sind doch Protestanten". Nur Einsegnungsstunden möge ich Beber nicht geben, was ich ja auch nicht beabsichtigte, da ich bloß dort predigte, wo ein Geistlicher fehlte.

So habe ich auch später während meiner Verbannung in Wjatka, wohin ein lutherischer Geistlicher nur einmal im Jahre kam, mehrfach getauft und beerdigt. Ich habe früher immer Pfarrer um ihre Fähigkeit, lange frei und oft auch unvorbereitet sprechen zu können, bewundert. Heute denke ich anders. Eine geistliche Rede, die sich an eine willige, meist recht urteilslose Zuhörerschaft wendet, scheint mir leichter zu halten, als eine weltliche, die von vornherein mit Widerspruch zu rechnen hat. Selbstverständliche Voraussetzung für beide bleibt, daß man an seine Sache glaubt und auch wirklich etwas zu sagen hat. Darum fallen einem Laien die ersten Predigten auch leichter als die späteren, wo die Gefahr einer Wiederholung eintritt, die der ausgebildete Geistliche durch seine mannigfachen Kenntnisse eher vermeiden kann. Doch erscheint es mir schöner, nur aus eigenem Glaubenserlebnis, nicht aus gelehrten Büchern zu schöpfen. Und noch eines ist wichtig: Daß man seine Zuhörer lieb hat — dies fiel mir bei meinen deutschen Bauern nicht schwer —, dann sagt das Herz dem Redner, was jenen zu hören lieb und gut ist.

Einmal weilte der Gouverneur von Kurland —Knjasew 20) —, dessen Stellung etwa der eines preußischen Oberpräsidenten entsprach, auch über einen Sonntag bei mir zu Besuch. Ich dachte, daß er gewiß —und wahrscheinlich in nicht gerade wohlwollender Weise — durch Russen oder Letten von meinen Gottesdiensten erfahren habe, und meinte, es sei besser, ihm einen Einblick zu gewähren. Ich sagte ihm also, ich sei gewohnt, meinen Leuten am Sonntage Gottesdienst zu halten, ob er nicht daran teilnehmen wolle. Natürlich wollte er. Wir fuhren also nach Puhnen, wo sich diesmal eine nicht so zahlreiche Gemeinde wie sonst — an anderen Sonntagen kamen an 200 Besucher — eingefunden hatte. Ich hatte nämlich, damit der Gouverneur keinen zu starken Eindruck von meiner Siedlungsarbeit erhielte, nicht überallhin mitteilen lassen, daß ich Gottesdienst halten würde. So war auch die Dame, die gewöhnlich die Hausorgel spielte, nicht gekommen, und es entstand die schwierige Frage, wer das Lied anstimmen solle, denn ich selber bin leider wenig musikverständig, und mit den Siedlern stand es kaum besser. Da stellte sich unerwartet heraus, daß der russische Gouverneur in seiner Jugend deutsche evangelische Kirchenlieder öfter gehört hatte und gerne bereit war, sie abzustimmen. So sangen wir unter seiner Leitung: "Ein feste Burg ist unser Gott" und "Befiehl du deine Wege". Später, während des Weltkrieges war Knjasew Generalgouverneur von West-Sibirien, einem Gebiete größer als Europa, indes ich nach Wjatka verbannt war. Wenn damals in die russischen Zeitungen durchgesickert wäre, daß jener allmächtige Mann mit dem "berüchtigten Baron Manteuffel" einmal zusammen einen lutherischen deutschen Gottesdienst gehalten hatte, so würde es ihn wohl seine Stellung gekostet haben. Zu seinem Glück ist es nicht bekannt geworden.

Nach dem Gottesdienste bat er mich, ihm einige Wohnungen der Siedler zu zeigen. Nun brachten diese, die ja meist nicht zu lesen und schreiben verstanden, mir bei meinen Besuchen gewöhnlich Briefe von Angehörigen, die ich ihnen vorlas. Da solche Schreiben oft berechtigte Klagen über die russische Regierung enthielten, schien es mir wenig angebracht, sie in Gegenwart des Gouverneurs vorzulesen. Glücklicherweise fanden sich diesmal keine derartigen Stellen, dagegen wurde in mehreren Briefen die Bitte ausgesprochen, ich möchte Reisegeld nach Wolhynien schicken, damit jene Verwandten zu mir nach Kurland kommen könnten. "Nun," fragte Knjasew, "was werden Sie tun?" "Ach, Exzellenz," erwiderte ich, "ich habe genug Arbeiter". — Das Siedlungswerk wurde vor den Russen immer mit Arbeitermangel begründet (Anm. 15) —. "Ja," sagte er, "aber die armen Menschen, die doch so gerne nach Kurland kämen". "Aber man kann doch schließlich nicht allen Menschen helfen," entgegnete ich. Er schwieg einen Augenblick und sagte dann ganz bescheiden: "Tun Sie es doch mir zuliebe!" "Gewiß," sagte ich, "dann soll es gern geschehen". Wie leicht konnte man doch mit Russen umgehen, wenn man sich ihnen anzupassen verstand, eine Kunst, die gerade uns Kurländern nachgerühmt wurde. Die Letten behaupteten immer, ein neu nach Kurland gekommener Gouverneur sei im ersten Jahre durchaus lettenfreundlich, im zweiten unparteiisch und im dritten bereits ausgesprochen deutschgesinnt. Dies lag wohl hauptsächlich daran, daß vernünftige Russen bei längerer Anwesenheit sowieso zu einem richtigeren, wohlwollenderen Urteil über uns kommen mußten, aber gewiß spielte dabei auch mit, daß wir die russischen Beamten zu nehmen verstanden. Einigen Gouverneuren gab man Jagden, mit anderen mußte man Trinkgelage abhalten, und wieder andere waren so wie dieser liebe, weichherzige Knjasew, mit dem man im Katzdanger Park bei Mondscheinspaziergängen Staatsangelegenheiten besprechen konnte.

Unterhaltungsspiele

Wenn der Ort, an dem ich Gottesdienst hielt, von Katzdangen so weit entfernt lag, daß ich nicht zum Mittagessen nach Hause fahren konnte, wurde ich hierzu von einem der reicheren Bauern eingeladen. Ich aß dann mit ihm allein oft sehr fette, schwere Speisen, die seine Frau uns auftrug, wozu ein ebenfalls nicht harmloser Schnaps getrunken wurde. Schon während des Essens erschienen allmählich die Nachbarn, der Kreis erweiterte sich zusehends, und man begann, die allgemeine Lage der Gemeinde oder die Sorgen, der Schule zu besprechen. Ich mußte ihnen dann auch über öffentliche und andere Fragen Auskunft geben. Später kamen auch die Frauen, die schweigend zuhörten, indes die Männer einer nach dem anderen bedächtig das Wort ergriffen. Um ihnen hinterher eine kleine Sonntagsunterhaltung zu verschaffen, hatte ich schon bei meinem ersten Besuche verschiedene Brettspiele mitgebracht, die sie bald aufs beste erlernten, schließlich auch Schach. Anfänglich hatten sie freilich in ihrer etwas starren Frömmigkeit jedes Spiel abgelehnt, und es hatte erst eines Hinweises auf Zwingli bedurft, der doch ein großer Reformator und zugleich ein warmer Befürworter des Schachs gewesen sei. Nun aber hatten sie gerade dieses Spiel liebgewonnen und beherrschten es bald so gut, daß ich später unter verschiedenen Vorwänden ablehnte, mich mit ihnen zu messen, da ich nicht unnütz mein Ansehen gefährden wollte. Schließlich nahmen auch die Frauen teil, die anfangs verwundert, dann immer angeregter zugeschaut hatten. Wenn ich Gäste mitgebracht hatte, die zufällig auch Schachspieler waren, machte es mir Freude, sie zu einem Wettkampf mit den Siedlern zu bewegen, wobei die nach ihren gewohnten Schulregeln vorgehenden und darum gegen unerwartete Züge oft hilflosen auswärtigen Schachgrößen nicht selten unterlagen.

Besucher

Bald kamen aus allen Teilen Kurlands, aber auch aus den Schwesterprovinzen und selbst aus Deutschland viele Besucher, um meine Siedlung kennenzulernen. Mit ihnen eine Rundfahrt zu machen, war oft sehr mühselig, schon der weiten Entfernungen wegen, lag doch meine liebste Siedlung, Post-Drogen, über drei Meilen von Katzdangen entfernt, eine Strecke, die mit Pferden hin und zurück auf den nicht immer guten kurländischen Straßen Zeit und Anstrengung erforderte. Auch ermüdeten die gleichbleibenden Fragen und die Pflicht, beständig das Gleiche zu zeigen und zu erklären. Oft, wenn ich den Tag über mit einem Besucher umhergefahren war und spät nach Mitternacht wieder in Katzdangen eintraf, meldete mir der Diener, es sei ein neuer Gast angekommen, der sich ebenfalls freue, die Siedlungen zu sehen. Dann mußte ich gleich beim Verlassen des Wagens für den kommenden frühen Morgen frische Pferde bestellen, so daß ich manchmal wochenlang keinen vollen Tag zu Hause weilen konnte. Aber auch diese Werbe gehörte zur Siedlungsarbeit. Dabei war es bemerkenswert, daß die meines Erachtens vornehmsten Besucher sich auch am besten mit den Bauern verständigten; ja diese selber empfanden es, daß ein vornehmer Mann schon seiner Art nach schlicht und gütig und daher leutselig sein müsse. Als mein Vetter Recke-Neuenburg 21), ein Edelmann im besten Sinne, eines Tages die Post-Droger Ansiedler mit mir ausgiebig besucht und sie in seiner freien, herzlich-heiteren Art gleich zu nehmen verstanden hatte, fragten mich diese bei meinem nächsten Kommen, wer der Herr gewesen sei, den ich das vorige Mal mitgebracht hätte; das müsse ein besonders vornehmer Mann gewesen sein, "weil er so lieb mit uns war".

Schulen

Bildend im besten Sinne wirkten auch die von uns begründeten deutschen Schulen. Es wäre ein arger Fehler gewesen, die Siedlerkinder den russisch-lettischen Volksschulen anzuvertrauen, wo sie glücklicherweise ja auch schon der Sprache wegen dem Lehrgange nicht hätten folgen können 22). So erteilten denn auf allen meinen Höfen die von mir berufenen Küsterlehrer den Unterricht. Es war mir gelungen, unter ihnen allmählich eine gute Auswahl zu treffen, die geeigneten als Lehrer zu behalten, während die anderen als Beamte in Landwirtschaft und Forst verwendet wurden. Somit waren diese aus meinen Mitteln unterhaltenen Volksschulen, in die auch die umliegenden deutschen Bauernhöfe ihre Kinder sandten, schließlich nicht schlechter als manche in Deutschland.

Eine höhere Bildung vermittelten die vom Deutschen Verein geschaffenen "Bürgerschulen", die ursprünglich für die Kreisstädte gedacht waren. Da es aber schwierig war, dort für die Kinder vom Lande geeignete Unterkunft zu finden, so richtete ich im Gutshause Puhnen eine solche Bürgerschule ein, die, mit einem Schülerheim verbunden, die Kinder für ein Billiges aufnahm. Die Lehrkräfte dieser Schule waren gebildeten deutschen Kreisen entnommen und verstanden es daher besser als die Küsterlehrer, ihre Pfleglinge zu höherer Gesittung zu erziehen, um so mehr, als sie ihre Zöglinge nicht nur während der Lehrstunden, sondern auch den ganzen Tag über beeinflussen konnten. Es war eine ausgezeichnete, auch den besten reichsdeutschen Volksschulen gleichkommende, wenn nicht gar überlegene Erziehungsstätte, die ihre Schüler nicht nur äußerlich Reinlichkeit und Ordnung, Gehorsam und gute Formen lehrte, sondern vor allem ihre reichen geistigen und seelischen Gaben zu entwickeln verstand. Hier wurde gediegene deutsche Bildung von ausgesuchten Kräften freudig gespendet, und es zeigte eich bald, daß diese Jugend die auf sie verwandte Liebe bestens lohnte. In wenigen Monden, ja Wochen, schienen die Kinder zum Erstaunen der eigenen Eltern wie verwandelt, sie selber aber waren über ihre Entwicklung ebenso glücklich wie ihre Angehörigen. Die Siedler drängten nach solchen Schulen, aus denen schon in wenigen Jahren ein neues, dem Baltischen Lande und seinen Aufgaben angepaßtes Geschlecht heranwuchs, das durch Erziehung und Bildung seinen Erzeugern überlegen war. Aber auch diese hatten sich gewandelt.

Gesamtsiedlung

War dies wirklich noch dasselbe Volk, das einst so verwahrlost nach Kurland gekommen war? Die kurze Zeitspanne von der Ankunft der ersten Siedler bis zum Weltkriege hatte genügt, uns solch ein Wunder erleben zu lassen. Wir hatten uns mit Recht durch den äußeren Schein nicht täuschen lassen und nicht umsonst auf das gute, deutsche Blut vertraut. Diese schöne, gesund und kräftig heranwachsende Jugend war nicht nur ihren Eltern, sie war noch viel mehr den Letten überlegen, aber ebenso auch der Durchschnittsbevölkerung mancher rassisch gemischter Gaue Deutschlands. Sie hatte auch vor manchen Reichsangehörigen eine sorgfältigere und liebevollere Schulerziehung und jene nun bewußte Treue zum deutschen Volkstume voraus, wie sie damals der Grenzlanddeutsche vor allen anderen Deutschen besaß. Diese Siedlerfamilien waren durch ihren Zusammenhalt, durch ihre Überlieferung und ihre überkommene, in Kurland geklärte, fromme Lebensanschauung auch eher vor den zersetzenden, jüdischliberalen Zeitströmungen geschützt, die bis zum völkischen Umschwung die reichsdeutsche Jugend verdarben. Wie heute die Hitler-Jugend, so war damals dieser Siedlernachwuchs unsere Hoffnung. Wir ahnten nicht, daß er als ein zu früher, zu weit vorgestreckter Trieb am deutschen Baume nur kurze Zeit für Kurland blühen sollte. Er hätte, wäre nicht der alles umstürzende Weltkrieg gekommen, das gefährdete baltische Deutschtum verjüngen und ergänzen können. Schnell wuchs er in unseren Mittelstand, in einzelnen Fällen auch in die gebildeten Kreise hinein. Diese jungen Siedler fühlten sich schon ganz als Balten und nannten Kurland ihre Heimat, die sie ebenso liebten wie wir. Ohne diesen zahlenmäßig großen Zuwachs, ohne ihre Tapferkeit und Treue wären die späteren Abwehrkämpfe der Baltischen Landeswehr gegen den Bolschewismus nicht möglich gewesen. Vom Lorbeerkranze, den sich die baltische Jugend damals erwarb, gehört unseren Siedlern ein voller Zweig.

Im ganzen waren bei Beginn des Weltkrieges an 16000 Siedler in Kurland. Manche Gutsbesitzer nahmen einzelne oder ganze Gruppen von ihnen als Knechte, einige schufen auch Ansiedlungen, andere wieder suchten die Siedlung vor allem durch geldliche Opfer zu fördern. Die Bewegung zog auch Livland in ihren Bann, wo Herr von Sivers-Römershof 23), der unvergeßliche Vorsitzer des livländischen Deutschen Vereins, sein Gut mit Wolgakolonisten, freilich nur in der Stellung von Knechten, besetzte. Selbst nach Estland kamen die Siedler, stießen aber hier unter dem nördlichen Himmel bei den zähen seßhaften Esten auf größere Hindernisse 24) als im so viel südlicheren Kurland, wo der Lette zur Stadt drängte und nur geringen Nachwuchs hatte.

Andere Siedlungsführer

Gewiß hätte unter diesen günstigen Umständen in Kurland noch viel mehr erreicht werden können, aber wie wenige Gutsbesitzer waren so glücklich daran wie ich, der ich als Majoratsherr doch über größere Mittel verfügte, dabei unverheiratet und selber anspruchslos war, somit meine Kraft und Zeit und Mittel allein diesem Werke widmen konnte. Aber das Verdienst anderer kleinerer, durch Sorge für Familie und Kinder gebundener Besitzer war darum auch größer als das meine. Mein Nachbar Theodor von Schroeders hatte sein treues Herz und seine starken Hände in den Dienst dieser Arbeit gestellt, sowohl auf seinem eigenen kleinen Gute wie auch als mein Bevollmächtigter auf einem Teile meines Besitzes. In seinem reinen Hochstreben, mit seinem gütigen, sonnigen Wesen und seiner erfrischenden Heiterkeit, aber auch mit seinem mannhaften, tüchtigen Wirklichkeitssinn war er wie kein anderer für dieses Werk geeignet. Seine Verdienste um die Niederwerfung des Aufstandes von 1905 und dann um die Siedlung sind nicht genügend bekannt geworden, bei seiner selbstlosen Bescheidenheit auch nicht einmal zu seinen Lebzeiten. Er war kein Neuschöpfer, auch kein Gelehrter, zu schlicht und ehrlich, um geistreich sein zu wollen, und doch in seiner beglückenden Geschlossenheit ein wahrhaft großer Mensch. Mir war er ein unersetzlicher Mitarbeiter. Als er, noch im vollen Schaffensalter, einer tückischen Krankheit erlag, stellte es sich heraus, daß er den größten Teil seines schon nicht bedeutenden Vermögens für die deutsche Sache hingegeben hatte. Aber seine Witwe und seine Kinder, ebenso deutsch und tapfer wie er, haben diese großen dem Deutschtum gebrachten Opfer gerne getragen. Baron Georg Hahn 25), der auch nur einen bescheidenen Besitz hatte, kaufte verhältnismäßig billig ein ebenfalls kleines, aber sehr fruchtbares Nachbargut in der Absicht, es mit einem Verluste, der vielleicht den dritten Teil seines geringen Vermögens betrug, an Siedler weiterzugeben.

Das Wirken solcher wahrer Helden, die, durch ungünstige Umstände behindert, nicht im Großen schaffen konnten, ist wenig bekannt und wäre doch nicht geringer zu werten als manche Arbeit, die, wie meine, mehr erreicht hat und darum auch mehr erwähnt worden ist. Hier brauche ich Herrn Silvio Brödrich nicht nochmals zu nennen; er hat mit seiner hinreißenden Werbekraft, mit seiner außergewöhnlichen Rednergabe in Kurland und später im Reiche unermüdlich für die Siedlung gewirkt, so daß seine Arbeit, die in den verschiedensten Teilen Kurlands Siedler ansetzte und von ihnen bei weitem die größte Anzahl ins Land gebracht hat, schon durch ihn selber in Wort und Schrift allgemein bekannt geworden ist.

Für mich war es eine große Erleichterung gewesen, durch das Majorat gestützt zu sein, aber auch meine Geldquellen reichten schließlich nicht aus, neue Güter zu kaufen, und es widerstrebte mir, unsichere Geschäfte abzuschließen, mindere Güter zu erstehen, sie aus einer Zwangslage zu hastig aufzuteilen und dann über meinem Einkaufspreise den Siedlern weiterzugeben. Dies alles hätte dem Rufe der Siedlung in Kurland wie auch in Wolhynien geschadet. Mir lag vor allem daran, ein Beispiel aufzustellen, das in Kurland für die Siedler und in Wolhynien für Kurland sprach. Mein Werk sollte durch seinen ausgesuchten und immer weiter verbesserten Menschenschlag wie durch seinen in sich geschlossenen und gesicherten Aufbau für den Siedlungsgedanken werben. Nur so konnte eine allgemeine Bewegung ins Leben gerufen und die Siedlung auf ganz Kurland ausgedehnt werden. Ein einzelner konnte dies nicht, seine Arbeit blieb unvermeidlich nach Zeit und Mitteln begrenzt. Aus dieser meiner nicht von allen Führern der Siedlung geteilten Schau war ich stolz, daß kein Siedler von mir wegging, kein Käufer seinen Besitz weiterverkaufte, und daß es mir andererseits gelang, manche Gutsherrn, die anfänglich Feinde der Kolonisation gewesen waren, durch Besichtigung meiner Siedlungen für die Sache zu gewinnen. Legte ich somit das Gewicht auf die Gediegenheit der Siedlung, nicht auf ihre Ausdehnung, so verbot auch schon der Mangel an freiem, nicht ans Majorat gebundenem Vermögen den weiteren Ankauf von Gütern, die außerdem nicht an Katzdangen gegrenzt hätten und daher auch schwerer zu übersehen gewesen wären.

Auch hätte eine weitere Ausbreitung meiner Siedlung dem Siedlungsgedanken in Kurland weniger genützt als der von mir erbrachte Beweis, daß dort jeder Gutsbesitzer siedeln konnte und sollte. Ich glaubte damit der Sache am besten zu dienen. Vielleicht hätte eine Zusammenfassung des gesamten Siedlungswerkes durch einen Verband, wie ich es ursprünglich beabsichtigt und auf dem Landtage dargelegt hatte, noch mehr erreicht. Da dies gegen meinen Wunsch nicht zustande gekommen war, blieb nur der von mir gewählte Weg gangbar, der auch zu entschiedenen Erfolgen geführt hat. Immer neue Gutsbesitzer wurden für die Siedlung gewonnen, die an immer neuen Orten der Heimat Fuß faßte. Sie war zu einem nicht mehr wegzudenkenden Bestandteile des baltischen Lebens geworden.

Ausblick

Unsere Arbeit war also keine Spielerei, kein Hirngespinst gewesen, wie so viele gedacht hatten. Der Geschichtsschreiber konnte an dieser Erneuerung und Vermehrung des baltischen Deutschtums nicht mehr vorbeigehen, und der Staatsmann mußte mit ihrer steigenden Bedeutung rechnen. Während der Deutsche Verein nur eine Abwehr bedeutete, war die Siedlung zum deutschen Gegenstoß, zur Antwort auf den lettischen Aufstand von 1905 geworden. Wir sahen bereits die ersten Früchte unserer Saat reifen. Das baltische Deutschtum durch das Siedlungswerk zu retten, war nicht mehr nur ein Zukunftsbild weltferner Schwärmer, auch dem nüchternsten Zweifler mußte es jetzt als greifbare Möglichkeit erscheinen.

War dies nicht doch eine Selbsttäuschung? Wäre die Entwicklung so fortgeschritten, wie sie begonnen hatte?

Es ließ sich nicht leugnen, daß der Deutsche Verein vor dem Weltkriege seinen Höhepunkt erreicht, wenn nicht gar überschritten hatte. Er umfaßte das gesamte Deutschtum, alles, was an hochstrebenden Kräften, an Heimatliebe und vaterländischem Opfersinn im Lande lebendig war. Aber das Wort Goethes: "Begeisterung ist keine Heringsware, die sich einpökeln läßt für viele Jahre" bewahrheitete sich auch hier. So manche begannen bereits die Lehren des lettischen Aufstandes zu vergessen; die tägliche, treue Arbeit für ein Hochziel ist schwerer als ein einmaliges Opfer in der Begeisterung.

Auch war die Siedlungsarbeit von ihren getreuen Anhängern so weit getrieben worden, wie es ihnen überhaupt möglich war; zur Fortsetzung mangelte die Kraft. Wenn das Siedeln bei geschicktem Vorgehen auch keinen Geldverlust mit sich zu bringen brauchte, so zwang es doch immerhin, große Vermögensteile festzulegen, was für den einzelnen auf die Dauer schwer tragbar ist. Neue, tätige Anhänger waren dem Siedlungsgedanken zunächst nicht zu gewinnen. Vielen Gutsbesitzern fehlten die Mittel, den ineisten der Entschluß, sich bewußt vom Alten loszusagen und mit den Letten als Volk wie auch mit den einzelnen zu brechen. Das eigene Wachstum der Siedlung — durch Geburtenüberschuß und selbständigen Zuzug — konnte aber nicht so schnell vor sich gehen wie eine durch uns zielklar geleistete Einwanderung. Andererseits war auch die Zahl der zum Verkauf angebotenen Güter beschränkt, ebenso wie die solcher lettischer Bauernhöfe, die von ihren Besitzern leicht abgegeben wurden. Allmählich mußte gerade hier ein bewußter Widerstand der Letten einsetzen. Entscheidend aber blieb immer das Verhalten der russischen Regierung. Würde sie der Siedlungsbewegung auf die Dauer freien Lauf lassen? Auch sie vergaß nach und nach die bösen Erfahrungen des Aufruhrs von 1905. Sie begann bereits die den deutschen Schulen gewährte Freiheit wieder zu beschneiden, an neue Verrussungsmaßnahmen zu denken und den Zuzug von Siedlern zu erschweren; die Gefahr lag nahe, daß die Siedlungsarbeit schließlich ganz verboten, womöglich rückgängig gemacht wurde. Schon prüfte der wieder mehr in russische Hände geratene Sicherheitsdienst die oft zweifelhaften Pässe der Siedler aufs genaueste und schob alle, die nicht nachweislich russische Untertanen waren, erbarmungslos ab. Die Letten verstanden es, sich von neuem bei der Regierung und der russischen Presse einzuschmeicheln. Die Zeitungen brachten täglich Angebereien und Verleumdungen gegen den Deutschen Verein, gegen die Siedlungsarbeit und vor allem gegen die Siedlungsführer selber, worunter gerade ich viel zu leiden hatte.

Bald kam auch die Frage der "Reformen" wieder auf, deren übertrieben freisinnige Durchführung die ganze Verwaltung des Landes schrittweise in die Hände der Letten übergehen lassen mußte. Das wäre der Tod des Deutschtums gewesen. So war bei Aufhebung des Patronatsrechtes der deutsche Pfarrerstand nicht mehr zu halten. Bei einem gleichen und freien Wahlrechte wären im Laufe einer einzigen Geschlechterfolge alle Pfarren in lettische Hände übergegangen und damit ein Hauptpfeiler des baltischen Deutschtums und einer staatserhaltenden Gesittung fortgerissen worden. Sicherlich wäre aber auch auf allen anderen Gebieten jener zweifelhafte Glückszustand erreicht worden, den dann der lettische Freistaat nur schneller, wenn auch etwas gewaltsam, herbeigeführt hat. Daher waren bei uns alle Deutschen in der Ablehnung dieser "Reformen" einig, so sehr wir auch einzelne Verbesserungen auf dem Verwaltungsgebiete herbeisehnten und einer wertwahrenden, den geschichtlichen Bedingungen des Landes entsprechenden Selbstverwaltung zuneigten. Die bisherige, an sich recht erträgliche russische Landesverwaltung 26) durch freiheitliche Einrichtungen abzulösen, hatte für uns nur dann einen Zweck, wenn dabei die deutschen Belange weder zugunsten der Russen, noch der Letten geschmälert wurden. Uns ist es nie verständlich gewesen, wie man im Reiche solche Fragen rein schulmäßig vom Parteistandpunkte aus beurteilen konnte. Es galt doch nur die Frage: Was nutzt, was schadet dem Deutschtum? Für Gegenden wie Wolhynien, wo die unteren Schichten deutsch, die oberen aber russisch oder polnisch waren, hätte ich eine freiheitliche Verfassung angestrebt; in Kurland, wo die Verhältnisse umgekehrt lagen, konnte nur eine beharrende Staatskunst dem Deutschtum frommen.

Aber auf die Dauer ließ sich der Aufstieg der Letten zur staatlichen Macht doch nicht verhindern. Die gelegenheitshörige, wenn auch nicht russisch gesinnte baltische Minderheit, die als Rettung vor dieser Gefahr eine Anlehnung an die russische Regierung unter Aufgabe mancher deutscher Hochziele suchte, ging bestimmt einen ebenso aussichtslosen Weg, wie der Versuch einer Aussöhnung mit den Letten gewesen war. Jene ständisch und zarisch eingestellten Vertreter von Adel und Großgrundbesitz verkannten, daß Rußland nicht mehr ein viel umfassendes Reich, sondern ein immer mehr nationalistisch werdender Staat sein wollte, der zwangsläufig immer weitere deutsche Opfer verlangen mußte und hinter dem schließlich ebenfalls die schrankenlose Massenherrschaft oder etwas noch Unbekanntes, Schlimmeres lauerte. Aber es bleibt andererseits auch sehr fraglich, ob der von uns gewählte, entgegengesetzte Weg über den Deutschen Verein und die Siedlung schließlich zum Ziele geführt hätte. Es war vielleicht doch zu spät, vielleicht überhaupt unmöglich, allein aus eigener Kraft den völkischen Aufbau des Landes zu ändern, den fehlenden deutschen Bauernstand zu schaffen, den sich bereits bedenklich neigenden baltisch-deutschen Turm zu untermauern. Ich bin dieser Zweifel nie Herr geworden; ich fragte mich, ob der Platz für jemanden, der Kurland retten wollte, nicht doch Berlin gewesen wäre. Was half es, Katzdangen, ja ganz Kurland dem Deutschtum zeitweilig zu sichern! Wenn die auswärtige Hilfe ausblieb, mußte der deutsche Vorposten doch über kurz oder lang, wenn nicht vor den Letten, so doch vor den Russen zurückgezogen werden. Die baltische Aufgabe war nicht mehr von innen zu lösen, sondern nur von außen, als eine der wichtigsten Ostfragen, als ein Ziel deutschen Ostwillens.

 

Anmerkungen

Anmerkung 6
Wenn es im Wesen eines Volkes liegt, landhungrig zu sein, so gilt dies vor allem von uns Deutschen. Wir alle hängen an der Scholle. Ein Stück Heimatboden sein. eigen zu nennen, ist die geheime, oft nie gestillte Sehnsucht eines jeden von uns. Und haben wir einen Landbesitz, so suchen wir ihn zu vermehren, einen immer größeren Anteil an Gottes schöner Erde zu erlangen. Für uns bedeutet Land den begehrenswertesten, vielleicht den einzig wahren Reichtum, den Besitz schlechthin, den die Juden und andere Handelvölker eher in Geld und sonstiger beweglicher Habe suchen. Wieviele Deutsche haben aus ungestilltem Landhunger die Heimat verlassen und sind wie die Kolonisten ruhelos über Länder und Meere getrieben worden. Der Germane kennt nur diese Art der Habsucht. Diese alte nordische Sehnsucht gab den Anstoß zur Völkerwanderung, sie hat Waräger und Normannen in die Ferne getrieben, die Römerzüge beseelt, den deutschen Osten erobert und das britische Weltreich mitbegründet. Heute ist es das deutsche Leid, daß gerade unser Lebensraum zu eng ist.

Anmerkung 7
Auch später habe ich Besitze nur aufgeteilt, wenn dadurch keine höheren Werte verlorengingen, ein Grundsatz, gegen den die zumeist rein geschäftlich denkenden früheren reichsdeutschen Siedlungsgesellschaften oft verstoßen haben. In Kurland aber hatte der lettische Aufruhr manche Güter durch Zerstörung ihrer Herrenhäuser für eine Aufteilung reif gemacht.

Ich kannte in Schlesien einen schönen Besitz. In seiner Mitte, auf dem Hauptgute, lag das von Schinkel erbaute, nicht große, aber künstlerisch reizvolle Schlößchen, umgeben von einem großzügigen, von Lenne angelegten Garten. An ihn schloß sich ein uralter, sehr geliebter Hain an, in dem auch ich oft geweilt habe. Nach dem Tode meines Freundes wurde der ganze Besitz verkauft. Nun aber erwarb die Landgesellschaft keineswegs die rings um den Haupthof gelegenen fruchtbaren Ackergüter, die selber keine bemerkenswerten Wohnhäuser, keinen geschichtlichen Park, keine schöne Umgebung besaßen, sich aber für Siedlungszwecke vor allem geeignet hätten. Diese gingen in andere Hände über, ein Teil sogar in jüdische. Dagegen kaufte die Landgesellschaft schließlich das als Landsitz so schöne, zu Wirtschaftszwecken aber von der ganzen Herrschaft am wenigsten geeignete Hauptgut und — fällte als erstes den Hain. Ich sah die alten Stämme am Boden liegen, den Ausblick vom Schloß durch Neubauten zerstört, jahrhundertelang gepflegte Schönheit aus Unvernunft und Gewinngier für immer vernichtet — und ich, der ich mein Leben lang Freund einer vernünftigen Siedlung gewesen bin, kann auch heute noch nur mit geballten Fäusten an diese Roheit zurückdenken.

Anmerkung 8
Die Schrift von Dr. Rudolf Schulz (s. u.), die ich erst nach Abfassung dieser Aufzeichnungen erhielt, bringt irrtümlich eine angebliche Bemerkung von mir, die Eintragung in die Grundbücher sei zuweilen aus politischen oder anderen nicht gesetzmäßigen Gründen verweigert worden. Mir ist ein solcher Fall nicht bekannt. Wenn alle gesetzlichen Bestimmungen und vor allem die geldlichen Voraussetzungen erfüllt waren, so erfolgte unverzüglich die Eintragung durch die zuverlässigen Grundbuchbeamten, die oft, wie auch in Libau, Deutsche waren. Natürlich durften dabei frühere Grundschuldgläubiger, wie der Kreditverein, nicht geschädigt werden. Da mir daran lag, lieber weniger zu siedeln, dafür aber ein möglichst gutes Beispiel für Käufer und Verkäufer aufzustellen, habe ich immer streng auf eine sofortige Eintragung in das Grundbuch gehalten.

Anmerkung 9
Nach Angabe von Dr. Schulz befinden sich heute noch [1938] in meinem Neuhausenschen Kirchspiel 723 Siedler, mehr als doppelt so viel wie in irgendeinem änderen Kirchspiel Kurlands. Die zweithöchste Zahl liefert meine Siedlung Kalwen mit 384 Seelen, so daß in diesem Gebiete immer noch 1107 Siedler leben. Hierzu wäre, wenn die Gemeindeeinteilung die alte geblieben ist, das Kirchspiel Hasenpoth, in das ein großer Teil von Katzdangen eingepfarrt war, ebenso wenig gerechnet wie das Kirchspiel Durben, worin Post-Drogen lag.

Anmerkung 10
Ein lustiges Beispiel, wie weit sich der Nützlichkeitsgedanke mitunter vorwagte, erlebte ich, als ich mit einem Herrn über seine Anstellung als Bevollmächtigter verhandelte. Ich sagte ihm, ich hätte es rnir zur Regel gemacht, keinen Beamten oder Arbeiter gegen den Willen des Bevollmächtigten zu behalten, natürlich aber auch keinen zu dulden, der mir selber mißfalle. Auf seinen Einwand, daß dadurch unter Umständen die Ertragsfähigkeit der Wirtschaft leiden könne, da der Ausschluß auch einmal aus unwirtschaftlichen Gründen erfolgen und einen besonders tüchtigen Angestellten treffen könne, erwiderte ich, man dürfe doch nicht verlangen, daß ich etwa dem Verbleib eines Viehpflegers zustimmte, der die ärgerliche Gewohnheit angenommen habe, mir jeden Morgen ins Gesicht zu spucken. "Aber wenn er sehr tüchtig ist?" warf der Bewerber ein. "Nein, auch dann nicht", entgegnete ich totentschlossen und beendete damit auch das Gespräch über die Anstellung dieses allzu tüchtigen Bevollmächtigten selber.

Anmerkung 11
Daß dieser Kinderreichtum mit der bei den Kolonisten beliebten Erbsitte des Minorats verbunden war, wie gelegentlich gesagt worden ist, erscheint mir zweifelhaft. So war im alten Kurland, dessen Großgrundbesitz teilweise auf der entgegengesetzten Ordnung des Majorats aufgebaut war, die Zahl der Kinder auch beim Adel einst recht erheblich. Als die sehr alte Baronin O. gegen Ende des vorigen Jahrhunderts von einer Familie hörte, in der das zehnte Kind angekommen war, sagte sie kopfschüttelnd: "Wie kann man nur so viele Kinder haben!" "Aber Mamachen", erwiderte eine ihrer Töchter, "Du hast doch selber sechzehn Kinder gehabt". "Ach was, Mitausche Geschichten", ereiferte sich die Greisin. Sie hatte es vergessen, und auch die Zeit war eine andere geworden.

Bis heute [1938] wirkt sich die Fruchtbarkeit der Kolonisten im baltischen Gebiete aufs glücklichste aus. So entnehme ich einer Aufstellung, daß in Riga auf 1000 Seelen nur noch 9,3 Kinder geboren werden, während der Kreis Hasenpoth durch meine Siedler mit 33,3 an der Spitze der deutschen Gemeinden und auch an sich immer noch günstig dasteht.

Anmerkung 12
Den Spruch vom inwendigen Himmelreich schrieb ich auch über den Eingang der von mir wiedererbauten Petri-Kirche.

Anmerkung 13
Als ich einem "bekenntnistreuen" Pfarrer mein schlichtes Glaubensbekenntnis so, wie ich es meinen Siedlern gebracht habe, wiederholte und ihn fragte, ob sich im Sinne Christi etwas dagegen sagen lasse, erwiderte er treuherzig: "Gewiß nicht, das ist alles ganz richtig, aber doch viel zu einfach". "Jawohl", bestätigte ich, "das ist es ja, was Sie Christus vorwerfen, daß er keine theologische Fakultät gegründet hat; er hatte ja auch immer eine unerklärliche Abneigung gegen die Schriftgelehrten seiner Zeit. Er wollte von allen, vornehmlich von seinen einfachen Fischern und Bauern verstanden sein. Nun hat die Kirche, beginnend mit Paulus und anderen Judenchristen, jenem "Übelstande" abgeholfen und auf Christus und neben Christus eine zweite, nicht mehr so einfache Lehre aufgebaut, die der Welt vielleicht besser entspricht. Mag sie! Wenn sie uns Einfältigen nur erlaubt, mit dem größten evangelischen Gottesgelehrten, mit Schleiermacher, "uns an alles zu halten, was Christus gesagt hat und nicht an das, was über ihn gesagt ist"."

Anmerkung 14
Der Tatsachen- und Offenbarungsglaube der "Bekenntnistreuen" ist ausgesprochen unevangelisch, ein Rückfall in den Katholizismus und muß zu einer neuen Glaubensspaltung führen. Man spottet über den "Wunderglauben der Heiden" und will gleichzeitig unsere Kirche auf äußeren Wundern aufbauen. Christus lehnt solche als Grundlage des Glaubens ausdrücklich ab, aber die große Masse war damals schon ebenso wundersüchtig wie heute. Wo beginnt, wo endet der Wunderglaube? Soll man auch an die Rede von Bileams Eselin glauben? Warum nicht? Es gibt um uns und in uns so vieles, was wir nie verstehen werden. Warum soll das gute Tier nicht geredet haben? Reden doch auch heute noch unzählige Esel. Aber selbst wenn ich tausend leibhaftige Eselinnen reden hörte, so würde das meinen Glauben nicht bestimmen. Die "Bileamiten", so möchte ich die "Bekenntnis-treuen" biblisch nennen, sollten mehr als auf äußere Wunder auf die Stimme Gottes im Herzen achten.

Anmerkung 15
In Wirklichkeit bestand ein fühlbarer Mangel an Landarbeitern kaum; es wäre falsch, die Siedlungsarbeit damit irgendwie in Verbindung zu bringen.

 

15) Vgl. unten S. 40 ff. und das Vorwort. D. H.

16) Silvio Brödrich, geb. Mitau, 9. März 1870. Landwirt, auf Kurmahlen. 1905 ehren-amtl. Kreischefsgehilfe. Neben Manteuffel der bedeutendste baltendeutsche Kolonisator, der 1907—14 auf 25 Ritter- und Stadtgütern in Kurland die Ansiedlung von deutschen Kolonisten durchführte. 1915 Pressereferent im Auswärtigen Amt in Berlin; 1918/19 in der Leitung der Anwerbungsstelle "Baltenland"; 1921—26 Sachverständiger für Land- und Siedlungsfragen beim Landwirtschaftsministerium in Litauen, dann Leiter der landwirtsch. Schule in Jeserig bei Brandenburg. D. H.

17) R. Schulz, Der deutsche Bauer im Baltikum ( = Zur Wirtschaftsgeographie des deutschen Ostens Bd. 15), Berlin 1938, S. 68f., 88, 110. D. H.

18) Theodor von Schroeders, geb. Ordangen um 1869, gest. Königsberg, Pr., 20. März 1914. Besitzer von Pelzen und Padohnen. — Eduard von Schroeders, geb. Ordangen, 17. Juli 1863, auf Jamaiken, seit 1908 auch Kloster-Hasenpoth. 1915—1918 Bürgermeister von Hasenpoth. D. H.

19) Die ungünstigen Urteile über die Letten sind einander ähnlich von Paul Einhorns Historia Lettica (1649, in: Scr. rer. Liv. II, S. 594f.) bis zu August Winnig (Am Ausgang der deutschen Ostpolitik, Berlin 1921, S. 111, 115) und General Graf R. v. d. Goltz (Meine Sendung in Finnland und im Baltikum, Leipzig 1920, S. 125, 149, 151, 152). Eine wissenschaftliche Untersuchung über den Letten im deutschen Urteil gibt es noch nicht. Sie wäre eine lohnende Aufgabe, die auch die Schilderung der Vorzüge, wie etwa die nach der Mitte des 19. Jahrhunderts erschienenen Romane von Th. H. Pantenius sie zeigen, zu berücksichtigen hätte. D. H.

20) Leonid Michailovic Knjasev, Geheimrat, Jägermeister. 1905—1910 Gouverneur von Kurland. D. H.

21) Wilhelm Baron v. d. Recke, geb. Schloß Neuenburg, 8. Mai 1875, gest. Prenzlau, 4. April 1933. Majoratsherr auf Schloß Neuenburg. D. H.

22) Die alte Volksschule des lettischen und estnischen Landvolks, eine Schöpfung der deutschen Führungsschicht, die durch Volkslehrerseminare (in Kurland auf dem Ritterschaftsgut Irmlau) auch für den Lehrernachwuchs sorgte, wurde durch die Russifizierungsmaßnahmen von 1887 völlig umgestürzt. Sah die Regierung den Hauptzweck der Volksschule fortan in der Verbreitung des Russischen, so traten sehr bald unvorhergesehene Nebenwirkungen der Umgestaltung ein: mit dem neuen Lehrerbestand drangen die marxistischen Irrlehren ein. Später ist berechnet worden, daß von den 443 Volksschullehrern in Kurland mindestens 184, d. h. 42 v. H., an der revolutionären Bewegung teilgenommen haben. Die kurländische Oberlandschulkommission erklärte am 5. Dezember 1905, es sei erwiesen, "daß der größte Teil der Volksschullehrer weder die Schulobrigkeit noch sonst eine andere gesetzliche Obrigkeit anerkenne, die gesetzlichen Forderungen nicht erfülle, bei Erteilung des Schulunterrichts ein von einer vermeintlichen neuen Regierung bestätigtes Programm befolge, sich der sozialdemokratischen und revolutionären Partei angeschlossen habe und infolge der genannten Tatsachen die Anordnungen der Oberlandschulkommission nicht befolge". [A. von Transehe-Roseneck], Die Lettische Revolution, Berlin 19082, II. Teil, S. 306. — Eine deutsche wissenschaftliche Untersuchung des kurländischen Volksschulwesens gibt es nicht. Vgl. R. von Hoerner-Ihlen, Die baltischen Ritterschaften, Berlin-Leipzig-Riga 1918, S. 69ff.; H. Baron Foelckersam, Das alte Kurland. Eine kulturhistorische Skizze, Rostock 1925, S. 41f. D. H.

23) Über die Siverssche Kolonisation vgl. R. Schulz, a. a. O. S. 98ff. Auch Sivers beabsichtigte die Schaffung von Eigentümerhöfen, und auch er hat später nur noch Wolhynier angeworben. Für die nordlivländische Eigentumssiedlung und die weitergehenden livländischen Siedlungspläne vgl. Schulz, a. a. O. S. 100ff. D. H.

24) Auch in Estland bestanden Siedlungspläne, vgl. Ed. Freiherr von Stackelberg, Ein Leben im baltischen Kampf, München 1927, S. 141. Über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die der deutschen Bauernsiedlung in Estland entgegenstanden, gibt eine briefliche Äußerung des letzten estländischen Ritterschaftshauptmanns Ed. Freiherr von Dellingshausen Auskunft, aus der R. Schulz, a. a. O. S. 105ff. Mitteilungen macht. D. H.

25) Baron Georg von Hahn, geb. Mitau, 6. Dez. 1867, gest. Dubbenhof, 13. Juni 1912. Besitzer von Dubbenhof. Unverm. D. H.

26) Die Landesverfassung hatte sich in den drei Ostseeprovinzen ähnlich, aber in Einzelheiten verschieden entwickelt. In Kurland war die Steuerverwaltung, d. h. die Erhebung und Verteilung der reichsrechtlichen Landesprästanden — anders als in Liv- und Estland — nicht ritterschaftliche, sondern gemischtbehördliche Angelegenheit. Das "Prästandenkomitee", dem der Landesbevollmächtigte als Mitglied angehörte, stand unter dem Vorsitz des Gouverneurs. Vgl. Th. v. Richter, Ländliche Selbstverwaltung: Organisation, in: Baltische Bürgerkunde I, Riga 1908, S. 160ff. D. H.

27) Baron Georg von Manteuffel gen. Szöge, geb. Rawen (Kurl.) 26. Juni 1862, ermordet bei Libau 16. Nov. 1919, auf Kapsehden. Dr. jur. Kreismarschall von Grobien. D. H.